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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden
Autoren: Richard Ford
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verliere; über das globale Bedürfnis nach mehr Gefühlen; über den immer stärker werdenden Eindruck von globaler Trauer; über den amüsanten Zufall seines Nachnamens – Wales. Sie war zierlich, geradeaus, provozierend, blieb selten lange bei einem Thema, lachte zu oft – das Lachen einer Frau, fand er, die Misstrauen gewöhnt war. Aber er hatte auch gedacht: Wo bist du denn hergekommen? Wo kann ich dich wiederfinden? Anfangs hatte sie gewirkt, als sei sie ihrer selbst nicht sicher – aber nicht schüchtern, schüchtern war sie nicht im Geringsten: sie lebte abgeschirmt, ohne Verpflichtungen, sorglos, was es ihr ermöglichte, unsicher zu wirken und dadurch gewagt. Das gefiel ihm auch. Es war spannend. Natürlich wusste er, wenn Frauen zu Vorträgen gingen, dann, weil sie etwas wollten – durchaus auch etwas Unschuldiges –, aber irgendetwas immer. Das war vor zwei Wochen gewesen. Als sie die Bar verließen, griff sie nach seinem Arm und sagte: »Wir werden uns beeilen müssen, wenn wir irgendwas zusammen vorhaben. Du bleibst ja nicht lange.« Sie hatten eigentlich nicht davon gesprochen, dass sie etwas zusammen vorhätten. Aber er würde tatsächlich nicht lange bleiben.
    »Dann beeilen wir uns halt«, sagte er. Das hatten sie getan.
    »Du hast eiskalte Hände.« Jena nahm seine Hände. Er mochte sie wirklich sehr.
    Er kniete sich hin und legte beide Arme um sie und hielt sie, so dass seine Wange an ihrem Haar lag. Sie trug ein kleines schwarzes Chanel-Kleid, das ihren Hals zeigte, und dort küsste er sie, dann küsste er sie ins Haar, das sich trocken auf seinem Mund anfühlte. Er konnte sich riechen. Säuerlich. Er sollte ein Bad nehmen, dachte er. Das wäre eine Wohltat.
    »Ich habe in der Lobby einen Mann getroffen, der mich kannte«, sagte er. »Er fragte mich nach einem Franklin. Ich wusste nicht, wer das sein sollte.«
    »Er hat dich wahrscheinlich mit jemand anderem verwechselt«, sagte Jena leise, ihr Gesicht an seinem.
    »Kann sein.« Vielleicht war es so, nur hatte ihn der Mann mit Wales angeredet. O Gott, merkte er, das waren ja genau die tristen Kleinigkeiten, die man seiner Frau erzählte, wenn man sich nichts mehr zu sagen hatte. Unwichtige Kleinigkeiten. Er hatte keine Frau.
    In jeder der fünf gemeinsamen Nächte im Drake hatte Jena, kaum dass er da war, darauf bestanden, sexuell sofort zur Sache zu kommen, als wäre dieser Akt eine Bestätigung von ihrer beider Existenz und alles andere müsste gefälligst warten; ihre Zeit miteinander war ernsthaft, drängend und schmolz schnell dahin. Jetzt wünschte er sich diesen Akt sehr, er war erregt, aber auch etwas aufgelöst. Immerhin hatte er heute Abend einen Todesfall miterlebt. Der Tod hätte jeden aufgelöst.
    Nur, was Jena gar nicht mochte, war Schwäche. Egal wo. Deshalb wollte er nicht aufgelöst wirken. Sie war eine Frau, die gern die Fäden in der Hand behielt, sich zugleich aber auch aus dem Gleichgewicht bringen lassen wollte, gebannt, als wäre das Rätselhafte eine Form interessanter Intelligenz. Daher musste er für sie derjenige sein, der die Fäden in der Hand hatte, der sogar abseitig, dunkel und möglichst rätselhaft wirkte – alles, nur nicht schwach. Das war ihre Traumwelt.
    Und doch war Abseitigkeit eine solche Last. Wen kümmerte es letzten Endes, ob man sich offenbarte oder nicht? Man tat es doch sowieso, ob man wollte oder nicht. Er begriff, dass er ihr bei alldem die interessantere Rolle überließ. Das war eine Art von Großzügigkeit. Schließlich gab es für sie nichts Realeres als das, was sie wollte.
    »Ich würde gern reden«, sagte Jena. »Können wir erst ein bisschen reden?«
    »Das hatte ich gehofft«, sagte Wales. Das klang dunkel genug. Vielleicht würde er ihr von der Frau erzählen, die vor seinen Augen auf der Ardmore Street umgekommen war.
    »Komm, setz dich in den Sessel neben mir.« Sie schaute auf und lächelte. »Wir können die Lichter anschauen und reden. Ich habe dich vermisst.«
    Ihm war egal, was er mit ihr machte; der Abend konnte auf ganz verschiedene Weise gut werden. Es würde sich schon ergeben, dass sie miteinander schliefen. Später würden sie auf die breite, erleuchtete Avenue hinaustreten, in die Kälte und den Wind, und irgendwo etwas essen. Das würde ihm mehr als reichen.
    Er saß zwischen ihr und ihrem Arbeitstisch, auf dem sich Bürsten, Becher mit Wasser und Terpentin, Pigmenttuben, Bleistifte, Radiergummis, Filzlappen, Rasierklingen und eine Vase mit drei Hyazinthen drängten.
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