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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden
Autoren: Richard Ford
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Er hatte ihre Bilder schon gesehen – vergrößerte Schwarzweißfotografien von einem Mann und einer Frau, Fotos aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Leute waren adrett gekleidet und standen im Vorgarten eines kleinen Holzhauses auf dem offenen Feld, so wie es aussah. Das waren ihre Eltern. Jena hatte auf diese Fotos gemalt, dem Mann und der Frau rote oder blaue oder grüne Schatten um die Konturen gegeben, ihre Gesichter verschmiert, ihnen ein entstelltes und hässliches, aber nicht komisches Aussehen gegeben. Es sollte eine Serie davon geben. Sie waren deprimierend, fand Wales – unnötig. »Bacon hat so was natürlich zuerst gemacht«, hatte Jena selbstbewusst verkündet. »Seine hat er nicht ausgestellt. Aber ich werde meine ausstellen.«
    Sie nahm einen langen roten Kaschmirpullover von der Sessellehne und streifte ihn über ihr Kleid. Bei der Fensterscheibe war die Luft eisig. Es war erregend, hier zu sein, als stünden sie am Rand, bereit zum Sprung.
    Acht Etagen unter ihnen strömten Autos über den Drive – Scheinwerfer und Schlusslichter –, die üppigen Apartments entlang der Gold Coast prächtig und gelb erleuchtet, allerdings abschreckend und unbelebt. Der rosa Schimmer des Schriftzugs vom Hotel nahm der tiefen Nachtluft darüber ihre Farbe. Der See selbst war ein lichtloser Abgrund. Seen waren öde, fand Wales. Ohne Drama. Er war nicht weit vom Meer aufgewachsen, das nie eine Enttäuschung war, nie Kompromisse machte.
    »Der See hat etwas Wunderbares, nicht wahr?«, sagte Jena und lehnte sich an die Scheibe. Winzige Partikel Feuchtigkeit segelten durch die getönte Luft dahinter.
    »Ich finde ihn immer enttäuschend.«
    »O nein«, sagte Jena zärtlich und wandte ihm ihr Lächeln zu. »Ich liebe den See. Er ist so tröstlich. So umgrenzt. Und Chicago liebe ich auch.« Sie drehte sich wieder zurück und presste die Nase an die Fensterscheibe. Sie war glücklich.
    »Worüber sollen wir sprechen?«, sagte Wales.
    »Meine Familie«, sagte Jena. »Ist das okay?«
    »Ich werde mal eine Ausnahme machen.«
    »Ich meine meine Eltern«, sagte sie, »nicht meinen Mann oder meine Töchter.« Jena war seit zwanzig Jahren verheiratet, ihre beiden Kinder allerdings waren jung. Eine war zehn, das wusste er noch, die andere sechs oder so. Sie mochte ihren reichen Ehemann, der sie ermutigte, alles zu tun, was sie wollte. Flugstunden nehmen. Ganze Sommer allein auf Ibiza verbringen. An Berufstätigkeit nicht mal denken. Männer kennen lernen. Sie musste nur mit ihm verheiratet bleiben – das war die Abmachung. Er war älter – in Wales’ Alter. Das war zufrieden stellend. Nur perfekt eben nicht.
    Sie legte zehn schlanke Fingerspitzen an das kalte Fensterglas und hielt sie dort wie auf Klaviertasten, dann sah sie ihn wieder an und lächelte. »Wo sind deine Eltern?«, fragte sie. Das hatte sie schon zweimal gefragt und zweimal vergessen.
    »Rhode Island«, sagte Wales. »Mein Vater ist vierundachtzig. Meine Mutter hat, na ja …« Ihm war es egal, das zu sagen, aber er zögerte trotzdem. »Meine Mutter hat Alzheimer.«
    »Würde sie dich erkennen?«
    »Ja, schon, wenn sie könnte, nehme ich an«, sagte Wales.
    »Kann sie es?«
    »Nein.«
    »Und haben sie weitere Sprösslinge?« Danach hatte sie noch nicht gefragt. Sie wählte oft ungewöhnliche Wörter. Sprösslinge. Interaktion. Netzwerk. Bund. Wörter, die ihre Freunde benutzten.
    »Eine Schwester. Sie ist älter. In Arizona. Wir sind uns nicht nahe. Ich mag sie nicht besonders.«
    »Hmmm.« Jena zog ihre Finger weg, ganz wenig nur, und legte sie dann wieder aufs Glas. Ihre Beine waren übereinander geschlagen. Sie hatte nichts an den Beinen und nichts an den Füßen, bestimmt war ihr kalt. Sie fragte nur aus Höflichkeit. »Meine Eltern waren im Wesentlichen sprachlos«, sagte sie und atmete matt aus. »Sie wuchsen so arm in Süd-Ohio auf – wo sowieso keiner was zu erzählen hatte –, dass sie nicht wussten, was man alles sagen können musste, damit die Welt funktionierte.« Sie nickte sich selbst zustimmend zu. »Meine Mutter zum Beispiel. Sie ging nicht auf einen zu und sagte: Guten Tag, ich heiße Mary Burns. Sondern sie fing einfach an zu reden und platzte gleich mit dem heraus, worum es ihr ging. Dann starrte sie einen an. Und wenn man überrascht war, nahm sie es einem übel.«
    Jena schien ihren Blick auf den geschmolzenen Strom der Autos unten zu konzentrieren. Das war ihre Geschichte, dachte Wales; die eine Geschichte aus ihrer
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