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Eine Sündige Nacht

Titel: Eine Sündige Nacht
Autoren: Sandra Brown
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voreingenommen gegenübergetreten. Als sie dann aber sah, dass Caroline nicht vorhatte, irgendetwas in dem Haus zu verändern, sondern im Gegenteil beabsichtigte, alles so zu lassen, wie Marlena es eingerichtet hatte, bröckelte ihre starre Haltung langsam. Natürlich konnte das Mädchen nichts dafür, dass es aus dürftigen Verhältnissen stammte. Mrs. Haney war nicht so voreingenommen, sie nach ihrer Familie zu beurteilen. Caroline ging freundlich und liebevoll mit Laura Jane um. Für Mrs. Haney bedeutete allein das schon einen Eintrag in ihr persönliches Heiligenbuch.
     
    »Mrs. Haney? Caroline? Was ist los?« Sie drehten sich zu Laura Jane um, die am Fuß der Treppe stand. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren sah Roscoes Tochter kaum älter als ein Teenager aus. Ihr weiches braunes Haar, das durch einen Mittelscheitel geteilt war, fiel gerade herunter und umrahmte ihr fein geschnittenes Gesicht, was die junge Frau ätherisch wirken ließ. Ihr Teint war so durchscheinend wie Porzellan. Ihre großen, elfenhaften Augen, von langen Wimpern
gesäumt, waren von einem samtigen Braun und blickten seelenvoll. Ihre Figur war nur in dem Maße gereift wie ihr Geist. Sie war eine exquisite Knospe kurz vor dem Erblühen. Alle fraulichen Rundungen waren im Ansatz zu sehen, würden aber nie zur Reife kommen. Genauso wie ihr Verstand war auch ihr Körper auf einer Stufe des Entwicklungsprozesses stehen geblieben. Sie würde für immer zeitlos bleiben.
    »Ist Daddys Operation vorbei? Kommt er jetzt nach Hause?«
    »Guten Morgen, Laura Jane«, sagte Caroline und ging zu ihrer Stieftochter, die nur fünf Jahre jünger war als sie selbst. Sie nahm das Mädchen in den Arm. »Kommst du mit mir hinaus? Es ist ein so schöner Tag.«
    »In Ordnung. Aber warum weint Mrs. Haney denn?« Die Haushälterin tupfte sich die Augen mit ihrem Geschirrtuch.
    »Sie ist traurig.«
    »Warum?«
    Caroline schob die junge Frau durch die Haustür auf die Veranda hinaus. »Wegen Roscoe. Er ist sehr krank, Laura Jane.«
    »Ich weiß. Sein Magen tut ihm die ganze Zeit weh.«
    »Der Arzt hat gesagt, dass das auch nicht besser wird.«
    Sie schlenderten über den sehr gepflegten Rasen. Eine Arbeiterkolonne erschien ungeachtet der Jahreszeit zweimal wöchentlich auf The Retreat , um das Anwesen in makellosem Zustand zu halten. Laura Jane pflückte sich einen Stängel aus einem Strauß Gänseblümchen, der an dem von Flechten überzogenen Steinpfad wuchs.
    »Hat Daddy Krebs?« Ihr Scharfsinn überraschte einen von Zeit zu Zeit.

    »Ja, das hat er«, erwiderte Caroline. Sie würde Laura Jane nicht die Wahrheit über den Zustand ihres Vaters verschweigen. Das wäre grausam.
    »Ich habe beim Fernsehen eine Menge über Krebs gelernt.« Sie hielt inne und sah Caroline an. Die beiden Frauen waren fast gleich groß, und ihre Augen trafen sich auf einer Höhe. »Daddy könnte an Krebs sterben.«
    Caroline nickte. »Er wird sterben, Laura Jane. Der Arzt sagte, es könne in einer Woche oder so geschehen.«
    In den dunkelbraunen Augen zeigten sich keine Tränen. Laura Jane hob das Gänseblümchen an ihre Nase, während sie über diese Neuigkeit nachdachte. Schließlich sah sie wieder zu Caroline. »Aber er kommt doch in den Himmel, oder?«
    »Ich nehme es an … Ja, ja, natürlich kommt er in den Himmel.«
    »Dann wird Daddy wieder mit Mama zusammen sein. Sie ist schon so lange da oben. Sie wird sich freuen, ihn zu sehen. Und ich habe dann immer noch dich und Mrs. Haney und Steve.« Sie sah zu den Stallungen hinüber. »Und Rink. Rink schreibt mir jede Woche. Er sagt, dass er mich immer liebhaben wird und dass er sich um mich kümmern will. Glaubst du, dass er das tun wird, Caroline?«
    »Natürlich wird er das.« Caroline presste die Lippen aufeinander, um nicht in Tränen auszubrechen. Würde Rink jemals ein Versprechen halten? Wenigstens seiner Schwester gegenüber?
    »Vielleicht kommt er schon bald nach Hause.« Sie wollte dem Mädchen nicht sagen, dass Rink zurückkommen würde, bevor er nicht tatsächlich da war.
    Laura Jane war zufrieden. »Steve wartet auf mich. Die
Stute hat in der Nacht ihr Fohlen bekommen. Komm und sieh’s dir an.«
    Sie ergriff die Hände ihrer Stiefmutter und zog sie zum Stall. Caroline beneidete Laura Jane um ihre Unverwüstlichkeit und wünschte, sie könnte Roscoes Tod mit genau demselben unkomplizierten Glauben an die Zukunft begegnen wie seine Tochter.
     
    Die Luft in dem weitläufigen Stall war warm und dick und duftete angenehm nach
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