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Eine Stadt names Cinnabar

Eine Stadt names Cinnabar

Titel: Eine Stadt names Cinnabar
Autoren: Edward Bryant
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menschenähnliche Gestalt bewegte sich im Finstern bei der Tür. Blau-Jade vernahm Worte, doch so leise, als würden sie nicht gesprochen, sondern nur ausgeatmet: „Miez, Miez – geh weg!“ Grinsend klaffte ein Mund. „Er gehört zu uns, Katze.“
    Aufschreiend, mit gestreckten Klauen sprang Blau-Jade zu. Die Schattengestalt rührte sich nicht. Sie quiekte und kicherte, während die Katzen-Mutter sie zerriß. Große Stücken Schattenmaterie, leicht wie Asche, flogen herum. Das spottende Gelächter verklang.
    Blau-Jade verhielt unter der Tür, ihre Flanken bebten, sie zog den Atem ein. Ihre großen pupillenlosen Augen mühten sich, das wenige Licht zu deuten. Scharfspitzige Ohren legten sich nach vorn. Das weitläufige Haus, sehr still, nur Blau-Jade trottete eilig die Diele entlang, schlängelte sich mühelos durch die ungeordnet herumstehenden Massen schlummernder Skulpturen. Sie lief lautlos, doch in ihrem Kopfe sprach es:
    Ich dumme Katze! Dieser Schatten war nur Täuschung, Ablenkung. Ich blödes Frauenzimmer! Der Knabe ist mir anvertraut. Wenn ihm etwas geschehen ist, werde ich bestraft. Wenn ihm etwas geschehen ist, bringe ich mich um. Ein Laut! Das Spielzimmer. Weit können sie nicht mit ihm sein.
    Merreile, dieses Biest! Ich könnte ihr die Gurgel herausreißen! Wie konnte sie ihm das antun! Ganz nahe jetzt. Still! Die Doppeltür des Spielzimmers stand weit offen. Blau-Jade schlüpfte durch ihren barock geschnitzten Rahmen. Ein großes, von Kindheits-Paraphernalien widerhallendes Zimmer: glotzäugige Schaukelpferde, endlose Regale mit halbfertigen Modellbauten, Bücher, Tonbänder und Punktkassetten in langen Reihen, Bälle, Schläger, abgewetzte Spieltiere mit herausquellender Füllung, Marterinstrumente, Brettspiele und ein Infrarotspektrometer. Vorsichtig schlich die Katzen-Mutter durch dieses Labyrinth der Kindheitserinnerungen.
    An einer leeren Stelle am hinteren Ende des Kinderzimmers fand sie ihn. George lag auf dem Rücken, Arme und Beine ausgestreckt, schwach gegen unsichtbare Fesseln ankämpfend. Schatten umschwebten ihn, dunkle, sukkubusartige Gebilde. Eins war übet ihn gebeugt und strich mit Schattenlippen über sein Fleisch. Georges Lippen bewegten sich, und er miaute schwach, wie ein Kätzchen. Er hob den Kopf und starrte über den Schatten hinweg auf Blau-Jade.
    Die Katzen-Mutter widerstand ihrer berserkerwütigen Reaktion. Statt dessen schlüpfte sie rasch zur Wand und suchte das Schaltbrett für die Beleuchtung. Sie drückte eine Taste, und dämmeriges Licht glomm von den Wänden; sie drückte stärker, und das Licht wurde heller, dann strahlend hell. Die Schlagschatten verschwanden, die schwebenden Gebilde räufelten sich auf wie schlecht gewebte Stoffe, und dann waren sie verschwunden. Blau-Jades Augen begannen zu schmerzen, und sie verminderte die Beleuchtung auf ein erträgliches Maß.
    Halb bewußtlos lag George da. Mühelos hob Blau-Jade ihn hoch. Seine Augen standen offen, sie bewegten sich rasch und ungerichtet, doch er sah nichts. Sie nahm den Knaben in die Wiege ihrer Pfoten und ging über die langgestreckte Diele zum Schlafzimmer.
    Den Rest der langen Nacht schlief George traumlos. Einmal, im halben Erwachen, bewegte er sich etwas und berührte Blau-Jades Brust. „Muschmusch“, sagte er, „Muschmuschmusch.“ Freundliche Schatten senkten sich tief auf die beiden Schläfer herab, bis es Tag wurde.
    Beim Erwachen spürte George einen sandigen Streifen innen an den Augenlidern. Er rieb sie mit den Fäusten, doch das Gefühl blieb. Sein Mund war trocken. Versuchsweise berührte er den Gaumen mit der Zunge; er fühlte sich an wie gerippte Plastik, ohne jeden Geschmack. Er streckte sich und stöhnte auf – die Gelenke schmerzten. Er kannte diese Symptome; es waren die Nachwirkungen böser Träume.
    „Ich habe Hunger.“ Er schmiegte sich in den blauen Satin. „Ich habe Hunger“, wiederholte er quengelig. Immer noch keine Antwort. „Blau-Jade?“ Er war hungrig und ein bißchen einsam. Hunger und Einsamsein gehörten für ihn zusammen, ergänzten sich und waren allgegenwärtig.
    George schwang die Beine aus dem Bett. „Kalt!“ Er zog seine Plüschpantoffeln an und ging, sonst nackt, durch die Halle.
    Skulpturen, in diversen Stadien des Erwachens, nickten George zu. Ein stilisierter David kratzte sich gähnend zwischen den Beinen, „’n Morgen, George.“
    „Guten Morgen, David.“
    Die Kopie einer Dritten Odaliske kümmerte sich nicht um ihn, wie gewöhnlich. „Dummes
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