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Eine Stadt names Cinnabar

Eine Stadt names Cinnabar

Titel: Eine Stadt names Cinnabar
Autoren: Edward Bryant
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„Möchtest du mir das alles vielleicht erklären?“
    Obregon nahm den toten Vogel auf wie ein Stück besonders ekligen Abfalls. „Ein Simulat“, erläuterte er, „eine Konstruktion. Würde ich ihn regelrecht sezieren, so würde ich ein ingeniöses Rezeptoren- und Führungssystem finden.“ Er sah Blau-Jade in die starren Augen. „Ein Spion, verstehst du.“ Er warf den Leichnam in den Abfallbehälter, wo er in einer goldenen Stichflamme verging und einen rasch verwehenden Duft nach durchgebratenem Fleisch hinterließ.
    „Er war groß“, sagte George.
    „Das hast du gut beobachtet. Flügelspanne mindestens zwei Meter. Größer als jeder natürliche Rabe.“
    „Wer spioniert hier?“ fragte Blau-Jade.
    „Ein Konkurrent, ein Kerl namens LeGoff, ein Mann von wenig Ethik und noch weniger Skrupeln. Gestern schickte er seine Spioninnen zu mir, um auszukundschaften, wie weit ich mit meiner neuen Erfindung bin. Und zwar so ungeschickt, daß ich es merken sollte. LeGoff ist schlimmer als ein gewöhnlicher Dieb. Er verhöhnt mich.“ Obregon deutete auf APE. „Das will er nämlich vor mir fertig haben.“
    „Eine Kristallsäule?“ fragte Blau-Jade. „Wie wundervoll.“
    „Rede keinen Unsinn, Katze! Meine Maschine kann die Zeit redigieren. Mit ihr kann ich die Gegenwart durch Modifizierung der Vergangenheit verändern.“
    „Mehr kann sie nicht?“
    Obregon machte ein angeekeltes Gesicht. „In meinem eigenen Hause brauche ich keinen Spott.“
    „Pardon. Es hörte sich so pompös an.“
    Der Erfinder lachte gezwungen. „Mag sein. Soweit hat mich LeGoff schon gebracht. Und ich wollte nichts weiter als in Ruhe meine Theorien ausarbeiten. Jetzt werde ich zu einer Art Konfrontation gedrängt.“
    „Und zu einem Wettrennen?“
    Obregon nickte. „Warum, weiß ich nicht. Jahrelang habe ich mit LeGoff im Institut gearbeitet. Er war immer ein Mann von undurchsichtigen Motiven.“
    „Du kannst gut schießen“, sagte George.
    Selbstbewußt verstaute Obregon die Armbrust wieder in der Konsole. „Eine Liebhaberei. Bis jetzt hatte ich nur auf feste Ziele geschossen.“
    „Kann ich mal versuchen?“
    „Ich glaube, dazu bist du noch zu klein. Man braucht eine ganze Menge Kraft, um den Bogen zu spannen.“
    „Zum Abdrücken bin ich aber nicht zu klein.“
    „Nein, das nicht“, lächelte Obregon. „Nach dem zweiten Frühstück gehen wir auf den Schießstand. Da kannst du schießen.“
    „Darf ich einen Vogel schießen?“
    „Keinen lebendigen. Ich werde dir künstliche machen.“
    „Timnath“, sagte Blau-Jade, „vielleicht – nein, wahrscheinlich doch nicht.“
    „Was?“
    „Deine Maschine. Träume kann sie sicher nicht verändern.“
     
     
    Mutter, Vater, helft mir doch, ich will diese Träume nicht mehr. Nur das warme Schwarze, weiter nichts. Mutter? Vater? Warum seid ihr weggegangen, warum kommt ihr nicht wieder? Ihr habt mich allein gelassen, das tut mir weh.
    Onkel Timnath, mach, daß sie wiederkommen. Sag ihnen, ich hab Wehweh, ich brauche sie. Blau-Jade, halt mich fest schaukel mich hab mich lieb hol sie zurück gleich gleich! Nein nein faß mich da nicht an wie Merreile ich will keine bösen Träume mehr tu mir nicht weh …
     
     
    Und jeden Abend kam Merreile in sein Schlafzimmer und holte ihn von seinen Spielsachen weg und machte ihn zum Schlafen fertig. Langsam zog sie ihn aus und streifte ihm das Nachthemd über, dann setzte sie sich mit gekreuzten Beinen ans Fußende des Bettes, und er lehnte sich in die Kissen.
    „Eine Geschichte vorm Einschlafen? Natürlich, Liebling. Soll ich dir wieder von den Vampiren erzählen?
    Weißt du meine letzte Geschichte noch, Liebling? Nein? Vielleicht habe ich gemacht, daß du sie vergessen hast.“ Und dann lächelte sie und zeigte die roten Knorpelbänder da, wo die meisten Menschen ihre Zähne haben.
    „Es war einmal ein kleiner Junge, ganz so wie du, der wohnte in einem riesigen alten Haus. Da war er ganz allein, nur mit seinen Eltern und seinem Fräulein, das ihn lieb hatte. Ach ja, und auf dem Dachboden hatten sich Vampire eingenistet. Aber die waren überhaupt nicht wie lebendige Wesen. Selten nur wagten sie sich vom Dachboden herunter, und der kleine Junge durfte auch niemals heraus. Das hatten ihm seine Eltern verboten, obwohl es dort eine Menge interessante und lustige Sachen gab.
    Und der Junge wurde immer neugieriger, und eines Nachts schlüpfte er leise aus seinem Zimmer und stieg ganz leise die Treppe hinauf zum Dachboden. Oben auf der Treppe
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