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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat
Autoren: Anne Perry
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heiratete. Damaris hat ihn besser gekannt.«
    »Deine ältere Schwester?«
    »Ja. Sie ist nur sechs Jahre jünger als er.« Nach kurzer Pause berichtigte sie: »War.«
    Hester machte einen raschen gedanklichen Zahlenüberschlag. Damit mußte Thaddeus Carlyon achtundvierzig gewesen sein; noch lange kein alter Mann, aber doch ein gutes Stück im mittleren Lebensabschnitt vorgerückt.
    Sie drückte Ediths Arm. »Es war nett von dir, daß du extra hergekommen bist. Ich hätte vollstes Verständnis gehabt, wenn du lediglich einen Lakaien mit einer Nachricht vorbeigeschickt hättest.«
    »Ich wollte lieber selbst mit dir sprechen«, erwiderte Edith mit schwachem Achselzucken. »Helfen kann ich nicht viel, außerdem war ich zugegebenermaßen ganz froh, einmal aus dem Haus zu kommen. Mama geht es verständlicherweise gar nicht gut, aber sie zeigt ihre Gefühle wie üblich kaum. Du kennst sie nicht, aber ich glaube manchmal, sie hätte einen besseren Soldaten abgegeben als Papa oder Thaddeus.« Sie lächelte, um deutlich zu machen, daß die letzte Bemerkung nicht ganz ernst gemeint war, eher eine indirekte Umschreibung von etwas, das sie nicht Worte kleiden konnte. »Sie ist unglaublich stark. Man kann lediglich raten, welche Gefühle sich hinter ihrer enormen Würde und Selbstbeherrschung verbergen.«
    »Was ist mit deinem Vater?« erkundigte sich Hester. »Er gibt ihr doch bestimmt Halt.«
    Die Sonne schien hell und warm. Nur ganz selten zupfte ein schwacher Wind an den strahlendgelben Blumenköpfen. Ein junger Hund sprang ihnen aufgeregt japsend zwischen die Füße, jagte den Weg entlang und schnappte dabei nach dem Spazierstock eines vornehmen Herren – zu dessen sichtlichem Verdruß.
    Edith holte Luft, um Hester die erwartete Antwort zu geben, änderte dann jedoch ihre Meinung.
    »Nicht sehr, fürchte ich«, gab sie trübsinnig zu. »Es ärgert ihn, daß die Angelegenheit einen derart lächerlichen Beigeschmack hat. Nicht ganz dasselbe, wie auf dem Schlachtfeld umzukommen, was?« Ihr Mund verzog sich zu einem schwachen, traurigen Lächeln. »Es fehlt die heroische Komponente.«
    Von dieser Seite hatte Hester es bisher noch nicht betrachtet. Sie war nur zu gut mit der harten Realität von Tod und Verlust vertraut, nachdem sie den jüngeren Bruder und beide Elternteile innerhalb eines Jahres auf tragische Weise verloren hatte. Jetzt machte sie sich das volle Ausmaß von General Carlyons Unfall klar und wußte genau, wovon Edith sprach. Bei einer Dinnerparty über das Geländer zu stürzen und von einer Hellebarde aufgespießt zu werden entsprach kaum den Vorstellungen vom heldenhaften Tod eines Soldaten. Es hätte schon einer größeren Persönlichkeit als der seines Vaters, Colonel Carlyons, bedurft, um nicht eine gewisse Verbitterung zu empfinden und den Stolz der Familie geschmälert zu sehen. Hester behielt es für sich, aber sie konnte sich des Verdachts nicht erwehren, daß der General zum Zeitpunkt seines Todes vielleicht nicht ganz nüchtern gewesen war.
    »Seine Frau muß in einem fürchterlichen Zustand sein«, sagte sie statt dessen. »Hatten sie Kinder?«
    »Allerdings, zwei Töchter und einen Sohn. Beide Töchter sind schon älter und verheiratet. Die jüngere war ebenfalls auf der Party, was das Ganze erheblich verschlimmert.« Edith schniefte geräuschvoll, und Hester konnte nicht genau sagen, ob es sich dabei um einen Ausdruck ihres Kummers oder ihrer Wut oder lediglich um eine Reaktion auf den Wind handelte. Dieser strich mittlerweile eindeutig frischer über das Gras, nachdem sie den schützenden Schatten der Bäume hinter sich gelassen hatten.
    »Laut Peverell, Damaris’ Ehemann, gab es Streit«, fuhr Edith fort. »Ihm zufolge war die Party sogar ausgesprochen scheußlich. Jeder schien furchtbar gereizt zu sein und wäre dem andern am liebsten an die Kehle gesprungen. Sowohl Alexandra, Thaddeus’ Frau, als auch Sabella, seine Tochter, stritten über den Tisch hinweg mit ihm herum – und mit Louisa Furnival, der Gastgeberin.«
    »Hört sich nicht gut an«, bestätigte Hester. »Aber Familienstreitigkeiten wirken oft wesentlich ernster, als sie tatsächlich sind. Ja, ich weiß, es macht den Kummer noch schlimmer, weil es die späteren Schuldgefühle zwangsläufig verstärkt. Trotzdem bin ich sicher, die Toten wissen genau, daß man nicht alles so meint, wie man es sagt, und daß sich unter der Oberfläche eine Zuneigung verbirgt, die wesentlich tiefer geht als ein momentaner Wutausbruch.«
    Edith
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