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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat
Autoren: Anne Perry
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außer Kraft gesetzt. Niemand kümmerte sich darum, wie spät es war, ob Morgen, Mittag oder Abend. Keiner machte Anstalten, seinen Platz zu verlassen.
    »Selbstverständlich hat niemand das Recht, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen«, begann Rathbone, während er sich zum Schlußplädoyer erhob, »egal wie stark die Provokation oder wie groß das Unrecht. Und doch: was blieb dieser armen Frau übrig? Sie hatte gesehen, wie sich dasselbe Muster ständig wiederholte, bei ihrem Schwiegervater, ihrem Ehemann und zuletzt ihrem Sohn. Sie konnte es nicht länger ertragen. Das Gesetz, die Gesellschaft – wir! – ließen ihr keine Alternative, als es weiterhin geschehen zu lassen, in endloser Erniedrigung und Qual über die Generationen hinweg, oder zur Selbsthilfe zu greifen.« Seine Worte galten nicht nur den Geschworenen, sondern auch dem Richter, und der Klang seiner Stimme ließ nicht den geringsten Zweifel an der Überzeugung offen, mit der er sein Anliegen vertrat.
    »Sie bat ihren Mann aufzuhören. Sie flehte ihn an – und er beachtete sie nicht. Vielleicht konnte er nicht anders, wer weiß? Aber Sie haben gesehen, wie viele Menschenleben durch diese Greueltat zerstört worden sind, durch das Ausleben eines Triebes unter völliger Mißachtung der anderen Person.«
    Er betrachtete die blassen, aufmerksamen Gesichter.
    »Sie hat es nicht leichtfertig getan. Sie leidet – sie wird von Alpträumen heimgesucht, die Höllenvisionen gleichkommen. Sie wird niemals aufhören, im tiefsten Innern für diese Tat zu bezahlen. Sie fürchtet Gottes Verdammung, aber das wird sie ertragen, weil sie ihr über alles geliebtes Kind davor bewahrt hat, auch noch den letzten Rest seiner Unschuld zu verlieren und später – wie sein Vater – ein Erwachsenendasein zu fristen, das von Schuld und Grauen geprägt ist. Sie hat ihren Sohn davor beschützt, ein Mann zu werden, der sein eigenes Leben und das seiner künftigen Kinder zerstört, Generation um Generation, bis der Himmel weiß wann!
    Bitte, fragen Sie sich einmal sehr sorgfältig, meine Herren, was sie sonst hätte tun sollen. Den leichteren Weg gehen wie ihre Schwiegermutter? Fände das Ihre Billigung? Das Grauen fortfahren lassen, weiter und immer weiter? Nur an sich selbst denken und ein bequemes Leben führen, weil der Mann auch seine guten Seiten hat? Gütiger Gott…« Er mußte eine Pause einlegen und bekam seine Gefühle nur schwer wieder unter Kontrolle. »Auf daß die nächste Generation dasselbe durchmachen muß wie sie? Oder aber den Mut aufbringen, sich selbst zu opfern, damit das Ganze ein Ende hat?
    Ich beneide Sie nicht um Ihre Aufgabe, Gentlemen. Sie stehen vor einer Entscheidung, die keinem Menschen abverlangt werden sollte. Aber sie wird Ihnen abverlangt, und ich kann sie Ihnen nicht abnehmen. Geben Sie und fällen Sie Ihr Urteil. Tun Sie es im Gespräch mit Gott, mit Anteilnahme, mit Verständnis und mit Ehrgefühl! Danke.«
    Lovat-Smith trat vor, um die Geschworenen mit ruhiger Stimme über das Gesetz zu belehren. Sein Ton war gedämpft und voll Mitgefühl, aber, so meinte er, Recht und Ordnung müßten aufrechterhalten werden, sonst regiere schon bald die Anarchie das Land. Mord dürfe niemals die Lösung sein, egal wie groß die Kränkung.
    Nun fehlte nur noch die Zusammenfassung durch den Richter, die er denn auch mit ernsten und prägnanten Worten gab. Dann schickte er die Geschworenen zur Beratung hinaus.
    Um kurz nach fünf am frühen Abend kehrten sie zurück. Ihre Gesichter waren bleich und abgespannt, zu keinerlei Gefühlsausdruck mehr imstande.
    Hester und Monk standen Seite an Seite ganz hinten im überfüllten Saal. Ohne sich dessen richtig bewußt zu sein, nahm Monk ihre Hand und spürte, wie ihre Finger sich um seine schlossen.
    »Sind Sie zu einem einstimmigen Urteil gelangt?« fragte der Richter.
    »Das sind wir«, gab der Obmann in ehrfürchtigem Tonfall zurück.
    »Jeder von Ihnen hat dazu beigetragen?«
    »Jawohl, Euer Ehren.«
    »Und wie lautet das Urteil?«
    Der Mann stand da wie eine Eins, das Kinn hoch, der Blick offen und direkt.
    »Wir befinden die Angeklagte, Alexandra Carlyon, des Mordes für nicht schuldig, Euer Ehren – jedoch schuldig des Totschlags. Und wir möchten Sie bei allem Respekt bitten, das Strafmaß so gering wie möglich zu halten.«
    Die Galerie explodierte in donnerndem Applaus und stürmischem Beifallsgeschrei. Jemand klatschte enthusiastisch für Rathbone, und eine Frau warf Rosen.
    Vorn in der ersten
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