Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
den Weg, die Haube derart weit auf dem Hinterkopf, daß sie jeden Augenblick vollends hinunterzurutschen drohte.
    Hester war erleichtert, daß sie doch noch gekommen war. Sie ging Edith entgegen, ohne es sich allerdings nehmen zu lassen, sich insgeheim eine passende Bemerkung hinsichtlich der verschwendeten Zeit und der groben Rücksichtslosigkeit zurechtzulegen. Doch dann sah sie Ediths Miene und wußte sofort, daß etwas nicht stimmte.
    »Was ist passiert?« fragte sie, als sie sich auf einer Höhe befanden. Ediths intelligentes, exzentrisches Gesicht mit dem weichen Mund und der leicht gebogenen Nase war leichenblaß. Das blonde Haar hing unordentlicher unter der Haube heraus, als der Wind und ihr überaus hektisches Vorwärtseilen gerechtfertigt hätten. »Was ist los?« wiederholte Hester beunruhigt. »Bist du krank?«
    »Nein…«, stieß Edith atemlos hervor. Impulsiv nahm sie Hesters Arm, ohne stehenzubleiben, und zog diese mehr oder minder hinter sich her. »Mir geht’s soweit ganz gut – wenn ich auch ein Gefühl habe, als hätte ich tausend Schmetterlinge im Bauch, und keinen klaren Gedanken fassen kann.«
    Hester hielt abrupt an, ohne ihren Arm zu befreien. »Warum? Was ist denn nur passiert? Nun sag schon.« Ihr Ärger war völlig verflogen. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
    Ein reumütiges Lächeln glitt über Ediths Züge und war sofort wieder verschwunden.
    »Nein – abgesehen davon, mir eine Freundin zu sein.«
    »Das bin ich sowieso«, versicherte Hester. »Was ist geschehen?«
    »Mein Bruder Thaddeus – General Carlyon – hatte gestern abend während einer Dinnerparty bei den Furnivals einen Unfall.«
    »Herrje, das tut mir leid. Nichts Ernstes hoffentlich. Ist er schwer verletzt?«
    Fassungslosigkeit und Verwirrung stritten in Ediths Gesicht um die Vorherrschaft, was es noch bemerkenswerter aussehen ließ, als es ohnehin schon war. Zwar konnte es in keiner Hinsicht als schön bezeichnet werden, doch die rehbraunen Augen verrieten Humor, der Mund eine gute Portion Sinnlichkeit, und der Mangel an Ebenmäßigkeit wurde durch die unübersehbaren Anzeichen eines blitzschnellen Verstandes mehr als ausgeglichen.
    »Er ist tot«, verkündete sie, als wäre ihr das Wort selbst völlig fremd.
    Hester, die im Begriff gewesen war, sich wieder in Bewegung zu setzen, blieb wie angewurzelt stehen. »Großer Gott! Mein aufrichtiges Beileid. Was ist ihm denn zugestoßen?«
    Edith runzelte die Stirn. »Er ist die Treppe hinuntergestürzt«, sagte sie langsam. »Deutlicher ausgedrückt: er fiel über das Geländer, landete frontal auf einer Ritterrüstung und bohrte sich, soweit ich weiß, deren Hellebarde in die Brust…«
    Hester konnte nichts weiter tun, als erneut ihr Mitgefühl kundzutun.
    Edith hakte sich schweigend bei ihr ein. Sie machten kehrt und gingen noch einmal zwischen den leuchtenden Blumenbeeten entlang.
    »Er war auf der Stelle tot, heißt es«, fuhr Edith nach einer Weile fort. »Was für ein unglaublicher Zufall, daß er ausgerechnet so auf diesem unglückseligen Ding landen mußte.« Sie schüttelte kurz den Kopf. »Eigentlich sollte es doch möglich sein, hundertmal dagegenzufallen, es lediglich umzustoßen und sich dabei ein paar schlimme blaue Flecken zu holen – vielleicht sogar gebrochene Knochen –, aber nicht gleich von der Hellebarde aufgespießt zu werden!«
    Ein eleganter Herr in Uniform spazierte an ihnen vorbei. Die schimmernde goldene Tresse und die blanken Knöpfe seines Rotrocks funkelten im Sonnenlicht. Er machte eine leichte Verbeugung, was sie mit einem mechanischen Lächeln quittierten.
    »Ich selbst war noch nie bei den Furnivals«, sagte Edith, als er verschwunden war. »Infolgedessen habe ich auch keine Ahnung, wie hoch die Galerie über der Halle liegt, aber ich nehme an, es müssen vier bis fünf Meter sein.«
    »Viele schwere Unfälle passieren auf der Treppe«, bestätigte Hester in der Hoffnung, die Bemerkung möge tröstlich und nicht salbungsvoll klingen. »So etwas kann leicht ein fatales Ende nehmen. Habt ihr euch sehr nahe gestanden?« Sie dachte an ihre eigenen Brüder: an James, den jüngeren, lebhafteren, der auf der Krim gefallen war, und an den ernsthaften, ruhigen und ein wenig aufgeblasenen Charles, das jetzige Familienoberhaupt.
    »Nicht besonders«, gab Edith mit gekrauster Stirn zurück. »Er war fünfzehn Jahre älter als ich und hatte das Haus noch vor meiner Geburt verlassen, um auf die Kadettenschule zu gehen. Ich war erst acht, als er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher