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Eine Nacht in Bari

Eine Nacht in Bari

Titel: Eine Nacht in Bari
Autoren: Gianrico Carofiglio
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jedoch kein Angeber, und auf eine distanzierte Art war er durchaus großzügig, das musste man ihm zugutehalten.
    Er machte keinen Hehl daraus, dass seine Entscheidung für den Notarsberuf mit der Absicht einherging, als Erwachsener denselben Lebensstil weiterzuführen, den er bereits als Kind gepflegt hatte.

    In der Schule war er weder gut noch schlecht gewesen. Sie war ihm egal – es gab kein Fach, für das er sich wirklich interessierte -, aber er hatte schon damals genug Realitätssinn, um zu erkennen, dass es sich nicht lohnte, schlechte Noten heimzubringen und womöglich ein Jahr wiederholen zu müssen. Das hätte weniger Taschengeld, Nachhilfestunden in den Ferien und andere Unannehmlichkeiten mit sich gebracht. Am Schuljahresende wurde er trotz minimalen Einsatzes und immer gerade so versetzt; nur in Sport war er immer sehr gut.
    Paolo war das genaue Gegenteil.
    Er war immer Klassenbester gewesen, wahrscheinlich war er sogar der Beste in der ganzen Schule, und er lernte, weil es ihm Spaß machte. Es fiel ihm leicht, und er war in allen Fächern gut, offensichtlich ohne sich anzustrengen und ohne wie ein Streber zu wirken – was er eben nicht war. Er half den anderen gern und ohne etwas dafür zu erwarten. Bei den Klassenarbeiten in Griechisch und Latein stritt man sich um den Platz neben ihm.
    Vor einiger Zeit hatte ich an Paolo gedacht, als ich nach einer Definition für Achtsamkeit suchte. Achtsamkeit ist eine moralische Tugend. Achtsam sein heißt, sich selbst und den anderen gegenüber gerecht zu sein. Achtsame Menschen sind neugierig und aktiv; sie lernen und arbeiten mit Begeisterung, Engagement und Leidenschaft; sie erforschen die Bedürfnisse der anderen und können ihnen helfen.
    Paolo war ein achtsamer Junge.
    Das bedeutete nicht, dass er keine Fehler hatte. Er konnte arrogant wirken oder manchmal sogar plötzlich
grausam werden. Aber er benötigte immer einen Anlass dafür, etwa, dass jemand absichtlich oder unabsichtlich die Hierarchie in Frage stellte, so dass Paolo sich bedroht fühlte. Das geschah allerdings nicht oft, denn er spielte in einer anderen Liga.
    Er hätte gern Philosophie studiert und wollte nach Pisa an die Elite-Uni »Normale« gehen. Er bewarb sich und bestand die schriftliche Aufnahmeprüfung mit Leichtigkeit, aber kurz vor der mündlichen Prüfung musste irgendetwas vorgefallen sein. Noch Jahre später habe ich immer wieder darüber nachgedacht, und letztendlich bin ich mir sicher, dass es mit seiner Familie zu tun haben musste. Sein Vater war Leutnant bei der Armee und seine Mutter Hausfrau – und ein Philosophiestudium, diese brotlose Kunst, war vielleicht ein Luxus, der in ihren Augen nicht zu verantworten war.
    Wie auch immer, Paolo erschien nicht zur mündlichen Prüfung und wurde nicht an der Normale angenommen; stattdessen tauchte er schließlich etwas geistesabwesend in dem riesigen, überfüllten und stickigen Hörsaal auf, in dem die Vorlesungen über Privatrecht gehalten wurden.
    Giampiero und ich hatten in der letzten Reihe Platz gefunden; als Paolo hereinkam, riefen wir ihn und er setzte sich neben uns. So begann es.
    Das Erste, woran ich mich erinnere, ist, dass Paolo uns ein paar Wochen lang erklären wollte, warum er beschlossen hatte, Privatrecht zu studieren. Das nämlich – sagte er – würde ihm ermöglichen, die moralphilosophischen Studien, um die es ihm immer schon gegangen war, auch von einer praktischen und insofern interessanteren
Perspektive aus zu betreiben. Paolo schien sehr genaue Vorstellungen von seinem Studienverlauf zu haben – und in gewisser Weise kam es dann ja auch so -, er wollte seine Examensarbeit über die Beziehung zwischen Recht und Moral schreiben, sagte er uns; speziell über die Spannung zwischen Rechtsgehorsam und dem Gehorsam gegenüber den moralischen Gesetzen (ich weiß, grinste er, Sophokles hat sich auch schon damit beschäftigt, aber das ist nun mal ein universelles Thema, dem man immer noch etwas hinzufügen kann). Als er nach ein paar Wochen einsah, dass sich keiner dafür interessierte und dass vor allem keiner wissen wollte, warum er nicht an die Normale gegangen war, ließ er das Thema sein und fügte sich wie wir in die schläfrige Routine des Jurastudiums an der Universität Bari. Das war Anfang der Achtzigerjahre.

    Dann war da noch ich. Ich hatte mich für Jura eingeschrieben, weil ich nicht wusste, was ich eigentlich wollte, ob und welche Fähigkeiten ich abgesehen von meinen schulischen Leistungen, die ich
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