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Eine Nacht in Bari

Eine Nacht in Bari

Titel: Eine Nacht in Bari
Autoren: Gianrico Carofiglio
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in erster Linie meinem Improvisationstalent verdankte, überhaupt hatte.
    Wo Paolo achtsam war, war ich zerstreut. Ich war geistesabwesend, konnte mich nicht konzentrieren, fand den entscheidenden Punkt nicht, brachte die tausend Dinge, mit denen ich mich beschäftigte, nie zu Ende. Von außen gesehen, wirkte ich vielleicht wie jemand mit vielen Talenten, aber in Wirklichkeit konnte ich nichts richtig gut. In meinen klaren Momenten wusste ich, dass ich vor
allem ein hervorragender Blender war. Aber zum Glück waren diese Momente eher selten. Generell lebte ich in einer Art Nebel, der mein Bewusstsein sanft umhüllte.
    Da ich keine genaue Vorstellung von mir selbst und den anderen hatte, spielte ich im sozialen Leben Rollen, die zu den jeweiligen Umständen passten und die von Filmen und Büchern inspiriert waren.
    In Wirklichkeit wusste ich nicht, wer ich war und was ich wollte. Das Jurastudium war eine Möglichkeit, Zeit zu schinden und diese nicht ganz unwichtigen Dinge und Entscheidungen aufzuschieben.

    Wie gesagt, wir waren sehr verschieden, aber in jener Bank in dem überfüllten Hörsaal wurden wir Freunde.
    Die Fakultät für Jura befindet sich an der Piazza Cesare Battisti, direkt hinter dem Hauptgebäude der Universität, in unmittelbarer Nähe zum Herzen der Stadt: dem so genannten Borgo murattiano. Das moderne Stadtzentrum aus dem 19. Jahrhundert hat die Form eines castrum romanum wie in Turin: Es wird von rechteckigen, geraden Straßenzügen gebildet, in denen man sich unmöglich verlaufen kann, weder zu Fuß noch mit dem Auto.
    Ich habe einmal etwas über die Form der von Murat entworfenen Straßenführung gelesen, was mir sehr gefallen hat. Der Franzose Paul Bourget hat es 1891 geschrieben, und mir hat dieser Gedanke sofort eingeleuchtet: »Ich finde die neue Stadt sehr anziehend mit ihren breiten, rechtwinkligen Straßen, an deren Ende man immer das Meer sehen kann; es ist wie in Turin, wo man überall
die Alpen sehen kann.« Das stammt aus dem Buch Sensations d’Italie , was übrigens auch ein sehr schöner Titel ist.
    Heute sieht man am Ende der Straßen nicht mehr das Meer, denn seit 1891 haben sich neue Stadtteile rings um das ursprüngliche Rechteck gebildet; noch dazu behindert der Verkehr die Aussicht, und darüber hinaus die Atmung. Aber nachts, sonntagnachmittags oder an manchen Feiertagen, wenn kein Verkehr ist und die Straßen leer sind, hat man noch heute ein Gefühl für die Geradlinigkeit vorhersehbarer Strecken und die überschaubaren Abzweigungen, von denen der französische Schriftsteller spricht. Paradoxerweise hat man gerade in diesen Momenten oft das unheimliche, schwindelerregende Gefühl, sich auf instabilen Fluchtlinien zu befinden, die ins Unbekannte führen.
    Unsere Stadt war in jenen Jahren fast komplett in dieses Rechteck gepresst.
    Nachmittags trafen wir uns kurz vor den Seminaren im Caffè della Posta in der Via Nicolai, Ecke Via Cairoli, hundertfünfzig Meter vor dem Institut. Hier saßen wir dann an einem Tisch, tranken Kaffee und redeten, und zwar sehr viel. Hauptsächlich über Mädchen, aber auch über Politik, Bücher und Musik. Was wir tun würden, um ein Zeichen zu setzen und etwas zu verändern; ein Thema, bei dem Giampiero sich allerdings eher zurückhielt. Er hatte keinerlei Ehrgeiz, die Dinge zu verändern, er nicht. Für ihn war alles gut, so wie es war.
    Ich kann mich an kein einzelnes dieser Gespräche im Detail erinnern. Stattdessen würde ich sagen, dass
ich weiß , worüber wir gesprochen haben (was natürlich nicht dasselbe ist). Manchmal verspüre ich eine Art Schwindel angesichts dieser Leere, dieser Verstümmelung meiner Erinnerungen, dieser verlorenen Teile meines Gedächtnisses und meiner Vergangenheit.
    Danach gingen wir ins Institut, und während der Vorlesungen redeten wir weiter, denn bis auf wenige Ausnahmen handelte es sich dabei um unsagbar langweilige Veranstaltungen.
    Nach den Seminaren verabredeten wir uns für den Abend, und dann ging jeder seiner Wege.
    Zwei, drei Mal die Woche war die Zeit zwischen Vorlesungsende und Abendprogramm der Moment, an dem ich durch die Buchhandlungen zog. Ich nahm mir Zeit und durchforstete sie auf das Genaueste, als wäre ich ein Geheimagent, der im Auftrag eines Verlags Spionage betreibt.
    Mein Rundgang beinhaltete normalerweise die Laterza-Buchhandlung in der Via Sparano, die alte »Mondadori für euch«-Buchhandlung (die leider Mitte der Achtzigerjahre zumachte) in der Via Abate Gimma, manchmal auch die
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