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Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche
Autoren: Jefferson Bass
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lang nicht hatte provozieren lassen, durfte ich schließlich aus dem Zeugenstand treten, den sie im Übungsgerichtssaal aufgestellt hatte. Als ich das Gebäude verließ und den Neyland Drive hinunterfuhr, war ich angespannt und durcheinander. Erst als mir bewusst wurde, dass ich an der Abfahrt Cherokee Trail vom Alcoa Highway heruntergefahren war, merkte ich, dass ich nicht zurück in mein Büro fuhr, sondern zur Body Farm. Doch selbst nachdem mir das klar geworden war, brauchte ich noch einen Augenblick, um zu begreifen, warum ich dorthin fuhr.
    In der an die Forschungseinrichtung grenzenden Ecke des Angestelltenparkplatzes des Krankenhauses stand sonst kein Auto. Das Maschendrahttor war verschlossen, ebenso das hohe Holztor dahinter. Trotzdem rief ich, nachdem ich mich eingelassen hatte, laut: »Hallo«, um mich davon zu überzeugen, dass ich das Gelände für mich hatte. Als ich mir dessen sicher war, sperrte ich das Tor hinter mir ab und ging den Hügel hinauf in den Wald.
    Es war das erste Mal, dass ich den Nerv aufbrachte, den Ort zu besuchen, seit ich vor drei Monaten die Vertiefung in den felsigen Grund gegraben und am Fuß der großen Kiefer einen Gedenkstein für Jess aufgestellt hatte. Der schwarze Granit war stumpf von Staub, und ich kniete mich hin, um ihn mit einem Taschentuch zu bearbeiten. Der Dreck war hartnäckiger, als ich erwartet hatte, also wischte ich mir Gesicht und Hals mit dem Stoff ab, um ihn anzufeuchten – nach einmal Wischen war er ziemlich durchweicht –, und machte mich dann wieder an die Arbeit. »Tut mir leid wegen dem Schweiß, Jess«, sagte ich. »Aber du warst nie zimperlich, also gehe ich mal davon aus, dass es dir nichts ausmacht.«
    Die Feuchtigkeit löste den Schmutz, und nachdem ich das Taschentuch mehrmals anders zusammengefaltet hatte, um immer ein sauberes Stück Stoff zum Wischen zu haben, glänzte der schwarze Granit wieder, und die silbrigen Glimmerteilchen in seiner Tiefe schimmerten. Ich schloss die Augen und fuhr mit den Fingern über den Stein. Die Kanten der gemeißelten Inschrift zupften an meinen Fingerspitzen und zerrissen mir das Herz. »In Erinnerung an Dr. Jess Carter, die für Gerechtigkeit arbeitete«, lauteten die Worte. »Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe.« Ich legte die Handfläche auf den warmen Stein, glatt und fest, genau wie Constance Creed vor kurzem ihre Hand auf meine Schulter gelegt hatte. Ich dachte an die Zeit zurück, als Jess und ich nur Kollegen gewesen waren – sie ein aufsteigender Stern unter den Medical Examinern im Staat, ich ein komischer Vogel von einem Anthropologen, der sich mit Leichen beriet, während sie sich in Schmiere oder nackte Knochen verwandelten. Es kam mir vor, als müsste das vor vielen Leben gewesen sein, obwohl wir in Wirklichkeit gerade vor sechs Monaten noch platonisch zusammengearbeitet hatten. Dann erinnerte ich mich an die Nacht, in der alles anders geworden war.
    »Gott, Jess, ich vermisse dich«, sagte ich. Wir hatten nur eine Nacht zusammen verbracht, doch diese Nacht war bedeutsamer gewesen als viele Jahre. Und sie hatte Jess das Leben gekostet. Garland Hamilton war mir zu Jess’ Haus gefolgt, hatte draußen herumgelungert und gelauscht, während wir uns liebten, und Jess dann – am nächsten Tag – gewaltsam von einem Restaurantparkplatz entführt, sie in den Keller seines Hauses verschleppt und dort erschossen. In einer letzten, perversen Wendung hatte er ihre Leiche hier auf der Body Farm – direkt hier an diesem Baum – in einer Art grausigem Tableau vivant inszeniert, und es war ihm beinahe gelungen, mir den Mord in die Schuhe zu schieben.
    Mich ließ der Gedanke nicht los, dass Jess und ich uns ein außergewöhnliches Leben hätten aufbauen können, wenn man uns nur gelassen hätte, eine seltene Partnerschaft zweier Seelenverwandter. »Wir werden es wohl nie erfahren«, sagte ich laut, doch schon während ich es aussprach, wusste ich, dass das nicht stimmte: Tief im Innern wusste ich es. Nur drei Dinge in meinem Leben waren je so tief und wahr gewesen, dass sie alles andere neu definiert hatten. Das Erste war das Leben mit Kathleen, meiner verstorbenen Frau, und unserem Sohn Jeff. Das Zweite war der absonderliche Berufsweg, dem ich halb gefolgt und den ich mir halb selbst geschaffen hatte. Das Dritte war, wie ich erst im Nachhinein erkennen konnte, die Liebe zu Jess, die in mir gewachsen war.
    Kathleen und mich hatte eine solide, verlässliche Liebe verbunden, die uns durch drei Jahrzehnte
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