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Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche
Autoren: Jefferson Bass
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frischen, warmen Schussopfern bis hin zu sonnengebleichten Knochen, im Kellerbereich des Krankenhauses kümmerte man sich um sie alle.
    »Guten Morgen, Lynette«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen?«
    »Gut, danke.«
    »Freut mich zu hören«, sagte ich, obwohl sie nicht so klang, als ginge es ihr wirklich gut. Sie hörte sich extrem nervös und formell an – eine seltsame Kombination, dachte ich, bei einer Frau, die mir einst auf einer Weihnachtsfeier einen denkwürdigen Kuss auf den Mund gedrückt hatte. Für diesen Verstoß gegen die Büroetikette konnte man im Wesentlichen den hochprozentigen Punsch verantwortlich machen; doch unsere häufigen Gespräche – persönlich und am Telefon – waren stets von der Entspanntheit und Zwanglosigkeit von Waffenbrüdern geprägt gewesen, Kameraden in den Schützengräben grausiger Unfälle und grässlicher Morde.
    »Dr. Garcia, der Medical Examiner, würde gerne mit Ihnen reden«, sagte sie, und als ich mir vorstellte, dass ein fremder Medical Examiner bei ihr saß, begriff ich, warum sie nicht so klang wie sonst. »Könnten Sie einen Augenblick dranbleiben?«
    »Sicher, Lynette«, sagte ich. »Einen schönen Tag noch.«
    Es klickte, und ich wartete. Nichts. Ich wartete noch ein Weilchen. Immer noch nichts. Dann hörte ich eine männliche Stimme sagen: »Ms. Wilkins, sind Sie sicher, dass er da ist?« Und nach einer kurzen Pause hörte ich: »Ich glaube nicht.«
    »Hallo?«, sagte ich.
    Wieder eine Pause.
    »Mr. Brockton?«
    Jetzt war ich dran mit der Pause. »Hier ist Bill Brockton«, sagte ich. »Dr. Bill Brockton. Was kann ich für Sie tun?«
    »Hier spricht Dr .   Edelberto Garcia«, sagte eine kühle Stimme, deren sorgfältige Betonung mir zu verstehen gab, dass nicht alle Doktoren gleich waren. Sein Vorname klang so, wie er ihn aussprach, elegant und aristokratisch, doch ich wusste ein bisschen was über die spanische Aussprache und erkannte, dass die englische Version seines Namens »Ethelbert« wäre, und hätte beinahe gelacht. »Ich bin vom Leiter der Gesundheitsbehörde zum Direktor des regionalen rechtsmedizinischen Instituts ernannt worden.«
    »Klar«, sagte ich und widerstand der Versuchung, ein »Ethelbert« hintendranzusetzen. »Ich habe letzte Woche mit Jerry zu Mittag gegessen. Er hat mir erzählt, dass er Sie eingestellt hat. Herzlich willkommen in Knoxville.«
    »Danke«, sagte er. Wenn er bemerkt hatte, dass ich Gerald Freeman, den Leiter der Gesundheitsbehörde, beim Vornamen genannt hatte, ließ er sich das nicht anmerken. Ich überlegte, ob ich noch hinzufügen sollte, dass Jerry mir vor sechs Wochen die Bewerbungsunterlagen der drei Finalisten für die Stelle gezeigt und mich nach meiner Meinung gefragt hatte. Garcia war meine zweite Wahl gewesen – und auch Jerrys –, doch der stärkste Finalist hatte eine um einiges besser dotierte Stelle im Büro des Medical Examiners in New York City angenommen.
    »Wir untersuchen derzeit den Tod einer Frau aus Knoxville, deren verbrannte Leiche letzte Woche in ihrem Auto gefunden wurde«, sagte er. Wieder hätte ich beinahe laut gelacht.
    »Ach, ja«, sagte ich, »ich glaube, davon habe ich schon gehört. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
    »Ein Beamter der Mordkommission, ein Sergeant Evers, hat mir gesagt, dass Sie einige – sollen wir Untersuchungen sagen? – durchgeführt haben, die relevant sein könnten.«
    »Ah, Sergeant Evers«, sagte ich. »Guter Mann, dieser Evers. Zäher Ermittler. In Vernehmungen einfach furchterregend.« Ich fügte nicht hinzu, dass Evers mich erst vor wenigen Monaten furchterregend vernommen und unter dem Verdacht des Mordes an Jess Carter, die hier in Knoxville vorübergehend als amtierende Medical Examiner gearbeitet hatte, vorläufig festgenommen hatte. Vielleicht wusste Garcia das bereits; wenn nicht, war er der einzige Mensch im Umkreis von hundert Kilometern. »Wenn Sergeant Evers glaubt, meine Untersuchungen könnten von Belang sein, liegt es mir fern, ihm zu widersprechen.« Ich hörte förmlich, wie er meine Worte und meinen Tonfall abwog, denn ich hatte ihnen eine hübsche Prise Sarkasmus hinzugefügt, und vermutete, dass er darauf noch steifer und noch herablassender reagieren würde. Hat keinen Zweck, mich gleich am ersten Tag mit dem neuen Medical Examiner anzulegen, dachte ich. »Das Experiment, das wir durchgeführt haben, ist tatsächlich sehr interessant, Dr. Garcia. Wir haben durch Feuer hervorgerufene Bruchlinien bei frischen Knochen – an
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