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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit
Autoren: William Boyd
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oder anderen Drink genehmigt hatte. Lysander hatte eine Taschenlampe und einen Flachmann mit einer Mischung aus Rum und Wasser dabei. Eine kleine Hommage an sein Soldatenleben – das Schlückchen Rum vor dem Morgenappell im Schützengraben – , ein Leben, das er hoffentlich bald für immer aufgeben würde.
    Er richtete die Taschenlampe auf seine Armbanduhr – 5.55 Uhr, noch eine Stunde. Langsam wurde es heller – die Baumstämme im dichten Wald traten nach und nach hervor, und als Lysander durch die Kronen mit dem letzten verbleibenden Laub nach oben blickte, sah er einen gelblich grauen Himmel, an dem dicke Wolken im Westwind dahinjagten.
    Er trank einen Tropfen Rum und genoss dessen Süße, die wohlige Wärme in Kehle und Brust. Eine Bierkutsche rollte vorbei, ein Kohlenhändler. Dann passierte ihn ein Telegrammbote auf seinem Motorrad. Der Tag fing an. Lysander hatte in dieser Nacht keinerlei Schlafversuch unternommen – das Chloral nicht angerührt – , sondern einen ausführlichen Bericht seiner Untersuchungen im Fall Andromeda verfasst, einschließlich der Vorgeschichte, seiner Hypothesen und Schlussfolgerungen. Damit hatte er sich wach gehalten, durchaus im Bewusstsein, dass er mit diesem Bericht Vorkehrungen traf – für den Fall, dass er die nächsten paar Stunden nicht überleben würde.
    Daran wollte er nicht denken – alles war auf einen überwältigenden, triumphalen Erfolg ausgerichtet, er hatte nicht die geringste Absicht, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Inzwischen war es deutlich heller geworden. Lysander lief ein paar Meter in den Wald hinein. Bald würden die Sonnenstrahlen oberhalb des Alexandra Palace durch die rasenden Wolken brechen und zunächst die Dörfer im Osten treffen, Hornsey und Highgate, Finchley und Barnet. Nun konnte er die bebenden, schaukelnden Äste über seinem Kopf tatsächlich sehen, er spürte die Windböen, die an seinen Schalenden zerrten. Die weiße Stuckfassade des Gasthofs leuchtete gespenstisch hervor; nun war in vielen Fenstern Licht, aus dem Hinterhof drang ein Scheppern. Lysander zog sich noch ein Stückchen tiefer in den Wald zurück. Wer auch immer sich am Treffpunkt einstellen würde, sollte den Eindruck gewinnen, als Erster da zu sein.
    Er rauchte noch eine Zigarette und trank etwas Rum. Die Uhr konnte er jetzt ohne Taschenlampe lesen: noch zwanzig Minuten. Plötzlich kamen ihm Zweifel – was, wenn er sich irrte? Er ging noch einmal wie besessen alle Schlussfolgerungen durch. Sie überzeugten ihn nach wie vor. Lysander wünschte nur, er hätte Zeit und Gelegenheit gehabt, seine Theorie mit jemand anderem zu erörtern. So musste sie unüberprüft in der Praxis bestehen.
    Aus Highgate fuhr ein Taxi hinauf, das Verkehrsaufkommen auf der Spaniards Road stieg zwar leicht an – ein Mann mit Schubkarre, ein Einspänner, der von zwei Jungen gelenkt wurde – , aber es herrschte immer noch eine himmlische Ruhe. Lysander verspürte den Drang, sich zu erleichtern, und knöpfte rasch seine Hose auf. Wieder musste er an den Alltag im Schützengraben denken – ein Schlückchen Rum und ein letztes Mal Pinkeln, bevor man über die Klinge sprang. Man stelle sich das nur bei Großangriffen vor – Zehntausende Soldaten, die Wasser ließen. Über dieses Bild musste er unwillkürlich lächeln und –
    Ein Taxi fuhr am Spaniards Inn vor.
    Darin saß ein Mann mit Homburg, er beugte sich vor, um den Fahrer zu bezahlen.
    Christian Vandenbrook stieg aus, und das Taxi fuhr weg.
    Im Schutz der Bäume brüllte Lysander aus Leibeskräften: »Vandenbrook! Was zum Teufel machen Sie hier? Verschwinden Sie!«
    Der Hauptmann hastete über die Straße. Er trug einen beinah knöchellangen Tweedmantel.
    »Das Telegramm habe ich Ihnen geschickt«, schrie Vandenbrook. Er spähte in den Wald, konnte Lysander jedoch nicht entdecken. »Rief? Ich weiß, wer Andromeda ist! Wo sind Sie?« Als er ihn endlich sah, rannte er keuchend auf ihn zu. »Nach dem Theaterbesuch ist mir klargeworden, wer das ist. Ich wollte nur selbst sichergehen, bevor ich es Ihnen sage.« Der Hauptmann stellte sich hinter einen Baum und blickte die Spaniards Road hinunter Richtung Highgate. »Jemand ist mir auf den Fersen. Lassen Sie uns weitergehen.«
    »Schon gut, beruhigen Sie sich erst mal«, antwortete Lysander. Sie folgten einem Trampelpfad, der in den Caen Wood führte. Vandenbrook war auffallend nervös und wachsam. Nach einer Weile zog er Lysander vom Pfad weg, und sie versteckten sich hinter den Bäumen. Nichts.
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