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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit
Autoren: William Boyd
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wieder verfluchte er seine Zerstreutheit, während er die Herrengasse entlanglief. Das zeigte doch ganz deutlich, wie angespannt, wie aufgewühlt er war. Wie konnte man von einer Parkbank aufstehen und weggehen, ohne sich automatisch den Hut aufzusetzen … Offenbar machte ihm dieser dräuende Termin sogar noch mehr zu schaffen, als seine vordergründige, vollkommen verständliche Nervosität vermuten ließ. Ganz ruhig, sagte er sich und lauschte dem rhythmischen Klappern der Metallhalbmonde, die in seinen Lederabsätzen eingelassen waren, wenn sie auf das Steinpflaster trafen – ganz ruhig. Das ist doch nur der erste Termin – du kannst jederzeit gehen, nach London zurückfahren –, niemand hält dir deswegen eine geladene Pistole an den Kopf.
    Er atmete tief durch. »Es war ein schöner Augusttag im Jahre 1913«, sprach er vor sich hin, wenn auch mit gedämpfter Stimme, gerade laut genug, um auf ein anderes Thema zu kommen und seine Stimmung zu heben. » Es war ein schöner Augusttag des Jahres … ach, 1913«, wiederholte er auf Deutsch und fügte die Jahreszahl auf Englisch hinzu. Zahlen fielen ihm schwer – lange Nummern und Jahreszahlen. Seine Deutschkenntnisse wurden rasch besser, aber er würde Herrn Barth, seinen Sprachlehrer, wohl darum bitten, eine Stunde lang nur Zahlen zu üben, um sie sich endlich einzuprägen. »Ein schöner Augusttag – « . An einer Mauer fiel ihm ein weiteres verunstaltetes Plakat auf, wie dasjenige, das er am Michaelerplatz erblickt hatte – inzwischen das dritte, seit er am Morgen seine Pension verlassen hatte. Man hatte einige Fetzen abgerissen, überall dort, wo der Leim nicht stark genug klebte. Beim ersten Plakat – das gleich neben der Tramhaltestelle hing, unweit der Pension – war sein Auge am Körper der spärlich bekleideten Maid hängengeblieben, die dort abgebildet war (der Kopf fehlte). Sie war fast nackt, geduckt, presste die Hände wie zum Schutz an ihre üppigen Brüste, während zwischen ihren runden Schenkeln ein beinah unsichtbarer, hauchdünner loser Schleier die Scham verdeckte. Die Zeichnung trug ungeachtet ihrer Stilisierung (der duftige, frei schwebende Schleier) realistische Züge, die besonders ansprechend waren, und so hatte er innegehalten, um sich das genauer anzusehen. Er hatte nicht die geringste Vorstellung von dem Hintergrund dieses Bildes, weil alles drum herum abgerissen worden war. Allerdings hatte auf dem zweiten verschandelten Plakat die Spitze eines schuppigen, gezähnten Reptilienschwanzes einen Anhaltspunkt dafür geliefert, warum die Nymphe oder Göttin, oder wer auch immer die Maid war, sich derart zu grausen schien. Und auf diesem dritten Plakat war immerhin noch ein Teil der Beschriftung erhalten geblieben: PERS- , darunter und, eine Zeile weiter schließlich Eine Oper von Gottlieb Toll- .
    Er dachte: Pers … Persephone? Eine Oper über Persephone? Hatte man sie nicht in die Unterwelt verschleppt, so dass Narziss – oder wer? – sie dort herausholen musste, ohne sich ein einziges Mal umzuwenden? Oder war das Eurydike gewesen? Oder vielmehr … Orpheus? Nicht zum ersten Mal ärgerte er sich über seine eklektische Bildung. Es gab einige wenige Dinge, über die er sehr viel, und viele Dinge, über die er kaum etwas wusste. Er tat einiges, um dem abzuhelfen – er las alles Mögliche, arbeitete an seinen Gedichten – , doch hin und wieder wurde er aus heiterem Himmel mit seiner Unwissenheit konfrontiert. Das gehörte nun mal zu den Risiken seines Berufs. Gerade die klassischen Mythen und Bezüge stellten für ihn ein undurchdringliches Durcheinander dar, um nicht zu sagen eine entscheidende Lücke.
    Wieder betrachtete er das Plakat. Diesmal hatte die obere Kopfhälfte dem Vandalismus standgehalten. Arabesken aus wild wehenden Haarsträhnen und weit aufgerissene Augen, die über den zerfetzten Längsstreifen spähten, als würde die Maid voller Entsetzen hinter einem Bettlaken hervorlugen. Als er die Fragmente der drei Plakate in Gedanken zusammensetzte, um sich ein möglichst umfassendes Bild von der Göttin zu machen, spürte er eine flüchtige Erregung. Eine nackte Frau, jung, schön, schutzlos einem schuppigen, eindeutig phallischen Ungeheuer ausgeliefert, das sich an ihr zu vergehen drohte … Eindeutig war auch die Erregungsabsicht dieser Plakate, und ebenso eindeutig stand fest, dass sie gegen die allgemeine Prüderie verstießen und einen wohlanständigen Bürger dazu verleitet hatten, die Aushänge zu schänden. Alles
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