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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit
Autoren: William Boyd
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Sie sollten selbst ein paar Tage in der Verschickungsabteilung verbringen. Dann werden Sie sehen, was dort alles offen zutage liegt. Berge von Fakten, für alle zugänglich. Das Ganze ist einfach zu groß, Munro. Diese Kriegsmaschinerie ist so gewaltig, so monströs, dass man sie gar nicht verstecken kann. Erst recht nicht aus so unmittelbarer Nähe. Jeder hätte Andromeda sein können. Zufällig war es Vandenbrook.
    Munro sah mich scharf an, wie einen frechen Schulbub, der immerzu den Unterricht stört.
    LYSANDER: Stellen Sie sich unsere Armeen wie Städte vor. Es gibt eine britische Stadt und eine französische, eine deutsche, eine russische. Außerdem noch die österreichische Stadt, die italienische und die türkische. Sie benötigen alles, was eine Stadt so benötigt – Kraftstoff, Verkehrsmittel, Energie, Nahrung, Wasser, sanitäre Anlagen, Verwaltung, Krankenhäuser, Polizeikräfte, Gerichte, Bestatter und Friedhöfe. Und so weiter. Führen Sie sich einmal vor Augen, was diese Städte täglich verbrauchen, oder auch nur stündlich. Sie werden von Millionen bevölkert und müssen um jeden Preis aufrechterhalten werden.
    MUNRO: Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Ja …
    LYSANDER: Und da wäre noch die letzte, die krönende Zutat …
    MUNRO: Und zwar?
    LYSANDER: Waffen. In jeder erdenklichen Ausführung. Diese Städte versuchen, sich gegenseitig zu vernichten.
    MUNRO: Ja … Darüber sollte man in der Tat mal nachdenken …
    Munro verstummte eine Weile und trat nach einer Taube, die sich zu nah an seine glänzend polierten Schuhe herangewagt hatte. Sie flatterte ein paar Meter davon.
    MUNRO: Warum haben Sie Vandenbrook getötet?
    LYSANDER: Ich habe ihn nicht getötet. Das hat er selbst übernommen. Als ich ihn mit dem Libretto konfrontiert habe. Er hat einen Revolver gezogen und sich erschossen. Sie brauchen nur sein Haus zu durchsuchen – dann werden Sie den entscheidenden Beweis finden. Der Schlüssel zu allem ist das Libretto von Andromeda und Perseus.
    MUNRO: Das können wir nicht tun. Die trauernde Witwe, die heulenden kleinen Mädchen, die ihren Vater verloren haben. Ein angesehener Offizier, an der Front verwundet, der den Freitod gewählt hat, weil er dem entsetzlichen Druck moderner Kriegsführung nicht standhalten konnte … Nein, wir können das Haus auf keinen Fall durchsuchen. Ganz abgesehen davon, wie sein Schwiegervater reagieren würde, wenn wir unsere Leute hinschickten, um alles auseinanderzunehmen.
    LYSANDER: Dann müssen Sie wohl meinem Wort Glauben schenken.
    Schweigen. Wir ließen uns beide nicht anmerken, was uns durch den Kopf ging.
    MUNRO: Das mit Ihrer Mutter tut mir leid.
    LYSANDER: Ja. Das ist wirklich tragisch. Es war wohl alles zu viel für sie. Aber ich muss ihre Entscheidung respektieren.
    MUNRO: Gewiss … Gewiss … Was ist mit Ihnen, Rief? Was wollen Sie jetzt tun?
    LYSANDER: Ich will eine ehrenhafte Entlassung. Ich will nie wieder zur Armee. Vom Krieg habe ich genug.
    MUNRO: Das können wir gern in die Wege leiten. Sie haben es sich wahrlich verdient.
    Zum Abschied reichten wir uns die Hand, dann trennten sich unsere Wege, Munro kehrte über die Northumberland Avenue zum Whitehall Court zurück, während ich die Strand bis zur Surrey Street und dem Trevelyan House Nr. 3/12 entlangschlenderte. Ich warf keinen Blick zurück, Munro vermutlich auch nicht. Es war vorbei.

21. Schatten
    Es ist ein dunkler, dunstiger, feuchter Abend in London, Ende 1915. Der schimmernd weiße Nebel erinnert an Rauch – als wären gerade Tausende von Kerzen verlöscht – , er windet und rankt sich an den Gebäuden empor, dehnt sich immer weiter aus, hüllt alles ein, sucht jede Tür und jede Treppe heim, dringt in sämtliche Gassen und Nebenstraßen, lässt die Dächer verschwinden. Die Straßenlaternen werfen jeweils einen gelblich schimmernden Lichtkegel, der zu verglimmen scheint, sobald er auf das glänzende Pflaster trifft, erschöpft vom kurzen Kampf gegen die alles verschlingende Dunkelheit.
    Du stehst zitternd an einer Ecke der Archer Street und spähst angestrengt in die Nacht hinaus, dein Blick bleibt an einer kleinen Gruppe von leidenschaftlichen Theatergängern hängen, die nach der Vorstellung von Mensch und Übermensch am Bühneneingang warten, sie wollen sich ihre Programmhefte von den Schauspielern signieren lassen. Begeisterte Ausrufe, zwischendurch spontaner Applaus. Schließlich zerstreuen sich alle, nachdem die Schauspieler herausgekommen sind, die Programmhefte signiert und
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