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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit
Autoren: William Boyd
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Kohleneimer schwer zu schleppen hatte. Er wandte sich ab und lief im Kreis, wobei er eine umgedrehte Ecke des verschlissenen Perserteppichs mit der Schuhspitze behutsam auf den Parkettboden zurückschlug.
    Aus dem Vorzimmer drangen einige – auffallend laute, scharfe – Stimmen zu ihm, die Tür sprang auf, eine junge Frau kam herein und machte sie mit einem kräftigen Knall hinter sich zu.
    »Entschuldigung«, sagte sie ungnädig, ohne ihn richtig anzusehen, dann setzte sie sich in einen der Sessel und wühlte energisch in ihrer Handtasche, bevor sie schließlich ein winziges Taschentuch herauszog und sich die Nase putzte.
    Lysander trat leise wieder ans Fenster; er konnte das Unbehagen dieser Frau förmlich spüren, die Anspannung, die in Wellen von ihr ausging, als erzeugte ein innerer Dynamo dieses Fieber, diese Angst – das deutsche Wort war ihm erfreulich spontan in den Sinn gekommen.
    Er drehte sich um, und ihre Blicke trafen sich. Solche Augen hatte er noch nie gesehen, durchscheinend helle braungrüne Augen. Und sie waren groß und weit – das Weiße, das die Iris umgab, deutlich erkennbar – , als betrachtete die junge Frau alles mit starker Intensität oder als stünde sie noch unter einem wie auch immer gearteten Schock. Ein hübsches Gesicht, dachte er – wohlgeformte Nase, spitzes, markantes Kinn. Olivbraune Haut. Ausländerin? Die Haare unter der ausladenden blutroten Baskenmütze waren hochgesteckt, und sie trug eine taubengraue Samtjacke zu einem schwarzen Rock. Am Revers prangte eine große Brosche aus rotem und gelbem Schellack in plumper Papageienform. Irgendwie künstlerisch, dachte Lysander. Schnürhalbstiefel, kleine Füße. Die junge Frau war tatsächlich sehr klein, sehr zierlich. Und sichtlich aufgeregt.
    Er lächelte und wandte sich wieder dem Hof zu. Die stämmige alte Haushälterin stapfte nun mit ihrem leeren Kohleneimer zu den Ställen zurück. Wozu benötigte sie im Hochsommer so viel Kohle? Das konnte doch –
    »Sprechen Sie Englisch?«
    Lysander drehte sich um. »Ja, ich bin Engländer«, sagte er leicht argwöhnisch. »Wie sind Sie darauf gekommen?« Es ärgerte ihn, dass man ihm seine Nationalität offenbar an der Nasenspitze ansehen konnte.
    »In Ihrer Tasche steckt eine Ausgabe des Graphic «, sagte sie und deutete auf die gefaltete Zeitung. »Das verrät einiges. Außerdem sind die meisten Patienten von Dr. Bensimon Engländer.« Ihre Sprechweise war kultiviert, offensichtlich war sie selbst Engländerin, ungeachtet ihres recht exotischen Teints.
    »Haben Sie vielleicht eine Zigarette übrig?«, fragte sie. »Rein zufällig?«
    »Zufällig ja, aber – « Lysander deutete auf ein Hinweisschild auf dem Kaminsims: Bitte nicht rauchen.
    »Na klar. Darf ich Ihnen für später eine mopsen?«
    Lysander zog sein Zigarettenetui aus der Jackentasche, klappte es auf und bot es der jungen Frau an. Sie nahm sich eine Zigarette, fragte: »Darf ich?«, und griff erneut zu, ohne seine Erlaubnis abzuwarten. Sie steckte beide Zigaretten in ihre Handtasche.
    »Ich muss wirklich ganz dringend mit Dr. Bensimon sprechen«, sagte sie bestimmt, sachlich und nüchtern. »Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn ich mich so einfach vordrängle.« Nun lächelte sie ihn an, so strahlend unschuldig, dass Lysander beinah geblinzelt hätte.
    Genau genommen machte es ihm durchaus etwas aus, aber er sagte: »Keineswegs«, und erwiderte ihr Lächeln, etwas verunsichert. Wieder wandte er sich dem Fenster zu, berührte seinen Krawattenknoten und räusperte sich.
    »Setzen Sie sich doch«, sagte die junge Frau.
    »Ich möchte gern stehen. Diese niedrigen Sessel ohne Armlehne sind recht unbequem.«
    »Ja, das sind sie in der Tat.«
    Lysander überlegte, ob er sich vorstellen sollte, aber dann kam ihm der Gedanke, dass das Wartezimmer eines Arztes zu den Orten zählte, an denen die Menschen – lauter Fremde – vermutlich lieber anonym bleiben wollten; schließlich waren sie sich nicht in einer Galerie oder einem Theaterfoyer begegnet.
    Er hörte ein leises Geräusch und sah sich um. Die Frau war aufgestanden und zu einem der Ruinen-Stiche gegangen (wie hieß der Künstler nur?), sie benutzte das Glas als Spiegel, um lose Haarsträhnen unter die Mütze zu stecken und ein paar flaumige Löckchen vor die Ohren zu ziehen. Lysander fiel auf, dass ihre kurze Samtjacke die Rundung von Hüften und Hintern unter dem schwarzen Rock zur Geltung brachte. Trotz ihrer fast acht Zentimeter hohen Absätze war sie sehr
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