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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit
Autoren: William Boyd
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Notizbuch aus der Tasche zog und eine Seite herausriss.
    »Das ist also der Mann, der den Tod deiner Mutter verschuldet hat«, sagte Hamo, ohne den Blick von Vandenbrook abzuwenden.
    »Ja. Er hat das Kunststück vollbracht, sie zu töten, ohne sie auch nur mit einem Finger anzurühren. Er wollte sie – und mich – benutzen, um seine Freiheit zu erkaufen.«
    »Dann soll er für alle Ewigkeit in der Hölle schmoren«, erwiderte Hamo. »Wir haben ein gutes Morgenwerk verrichtet, würde ich sagen.«
    Lysander kritzelte ein Wort auf das Blatt Papier und nahm die Sicherheitsnadel ab, die er hinter dem Revers getragen hatte. Damit heftete er den Zettel an Vandenbrooks Brust. Darauf stand: ANDROMEDA.
    »Dafür hast du sicher einen triftigen Grund«, sagte Hamo.
    »O ja.«
    Lysander löste den Revolver aus Vandenbrooks Griff und ging ein paar Meter weiter, bevor er einen Schuss in den Boden abfeuerte. Danach steckte er den Revolver wieder in Vandenbrooks Hand und drückte dessen Zeigefinger durch den Abzugshebel.
    »Dieses kleine Spielzeug hätte niemals so gründliche Arbeit geleistet.« Hamo klang geradezu beleidigt.
    »Das spielt keine Rolle. Andromeda hat Selbstmord begangen – mehr wollen sie gar nicht wissen. Und wir werden nie wieder davon hören. Wo steht dein Auto?«
    »Um die Ecke auf der Hampstead Lane. Er hat wohl gemerkt, dass er beschattet wird – hat das Taxi tausend Umwege fahren lassen. Und ich wollte nicht riskieren, dass er mich sieht.«
    Lysander legte seinem Onkel den Arm um die Schultern und drückte sie fest. Er hatte Tränen in den Augen.
    »Du hast genau das Richtige getan, Hamo. Danke.«
    »Ich hatte dir doch gesagt, dass du mit mir rechnen kannst, mein Junge. Jederzeit.«
    »Ich weiß. Und jetzt verbindet uns ein Geheimnis.«
    »Meine Lippen sind versiegelt.«
    Sie ließen Vandenbrooks Leiche im Wald zurück und liefen zur Hampstead Lane, gerade, als es schwächlichen Strahlen gelang, durch eine Lücke in der sausenden Wolkendecke zu stoßen. Für einen Augenblick war das Licht blasses Gold.

20. Autobiographische Untersuchungen
    Das Grab meiner Mutter befindet sich im Norden des Friedhofs von St. Botolph, der zur Pfarrkirche von Claverleigh gehört. Ein ziemlich karges und kühles Fleckchen, weitab der ausladenden Eiben, die die Zentralallee säumen und den Ort so düster machen. Ich wollte, dass sie ein wenig Licht abbekommt. Hugh Faulkner hat zu beiden Seiten des Grabsteins zwei japanische Zierkirschen gepflanzt. Ich werde im Frühling wiederkommen, wenn die Zierkirschen blühen, und meiner Mutter mit mehr Muße gedenken. Auf ihrem Grabstein steht:
    ANNA LADY FAULKNER
    1864–1915
    Witwe von Crickmay, 5. Baron Faulkner
    1838–1915
    Einstige Gattin von
    Halifax Rief
    1840–1899
    Mutter von
    Lysander Rief
    Auf ewig unvergessen und für immer geliebt
    Und so reduziert sich unsere verschlungene Geschichte auf diese paar Fakten, eine Handvoll Wörter und Zahlen.
    Ich bin nie wieder in die Verschickungsabteilung zurückgekehrt – in Zimmer 205 hatte ich nichts Persönliches hinterlassen – und war heilfroh, diesem Ort den Rücken zu kehren, der so penetrant und nachhaltig nach Desinfektionsmittel roch. Dafür bin ich ein letztes Mal ins White Palace Hotel gegangen, um die liegengebliebene Post abzuholen und meine neue Adresse anzugeben. Das Apartment 3/12 im Trevelyan House war mir aus unerfindlichen Gründen ans Herz gewachsen, und so gab ich die Wohnung am Chandos Place auf, als ich erfuhr, dass der arme Greville Varley in Kut-al-Amara (Mesopotamien) an der Ruhr gestorben war. In meinem Poststapel steckte unter anderem – hauptsächlich Wurfsendungen (der Briefkastenfluch eines jeden dienenden Offiziers) – ein Brief von Hettie:
    Lysander, mein Lieber,
    kannst Du mir noch einmal verzeihen? Ich habe Dir diese schrecklichen Dinge nur deshalb an den Kopf geworfen, weil ich so wütend war. Ich hätte sie trotzdem nicht sagen dürfen (vor allem nicht das über Lothar – anbei findest Du ein Foto). Ich schäme mich und vertraue auf Deine Großmut.
    Von Jago werde ich mich scheiden lassen und dann in die Vereinigten Staaten ziehen. Ich möchte in einem friedlichen, neutralen Land leben – ich habe diesen grässlichen Krieg satt, der kein Ende nehmen will. Ein Freund von mir betreibt eine Künstlerkolonie in New Mexico, und ich werde dort mitmachen und Lehrerin werden.
    Leider reagiert Jago sehr ungehalten auf meine Pläne; es klingt vielleicht seltsam, aber er gibt Dir die Schuld. Anscheinend
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