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Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte
Autoren: Hakan Nesser
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eine Weile davon verschont bleiben?«
    Gunnar Barbarotti dachte einen Moment lang nach.
    »Her damit. Aber keine Reklame.«
    Der Briefträger nickte, blätterte in seinem Bündel und überreichte ihm drei Briefumschläge. Barbarotti nahm sie entgegen und stopfte sie in die Außentasche seiner Reisetasche. Wünschte einen schönen Sommer und ging in etwas gemächlicherem Tempo weiter hinunter ins Erdgeschoss.
    »Gotland ist eine Perle«, rief der Briefträger ihm nach. »Die meisten Sonnenstunden in ganz Schweden.«
    Sonnenstunden?, überlegte Gunnar Barbarotti, als er Kymlinge hinter sich gelassen und die Temperatur im Auto auf fünfundzwanzig Grad gedrosselt hatte. Nicht, dass ich etwas gegen Sonnenschein habe, aber wenn es zehn Tage regnet, werde ich deshalb auch nicht traurig sein.
    Es war eine andere Art von Wärme, die in Aussicht stand, aber davon konnte ja der Briefträger nichts wissen … wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden?
    Ziemlich viel Predigertum heute, stellte Gunnar Barbarotti fest und schaute auf die Uhr. Es war erst zwanzig vor elf. Der Briefträger war ungewöhnlich früh gewesen, vielleicht hatte er ja geplant, nachmittags irgendwohin zum Baden zu fahren. Barbarotti gönnte es ihm. Kymen oder Borgasjön. Er gönnte allen Menschen heute, das zu tun, was sie tun wollten. Ein Seufzer des Wohlbehagens entfuhr ihm. So sollten alle Seufzer sein, dachte er plötzlich. Man sollte sie nicht heraufbeschwören, sie sollten einem einfach so entfahren. Das müsste auch bei Salomon stehen.
    Er betrachtete sein Gesicht im Rückspiegel und stellte fest, dass er lächelte. Unrasiert und etwas zerzaust sah er aus, aber das Lächeln spaltete sein Gesicht fast von einem Ohr zum anderen.
    Und warum auch nicht? Die Fähre von Nynäshamn sollte um fünf Uhr ablegen, die Straße schien autofrei zu sein, wie der Himmel wolkenfrei war, es war der erste Tag einer lang ersehnten Reise. Er fuhr schneller, schob eine Scheibe mit Lucilia do Carmo in den CD-Player und dachte, dass es doch eine Freude war zu leben.
    Dann begann er an Marianne zu denken.
    Dann dachte er, dass es sich dabei um genau das Gleiche handelte.
    Sie kannten einander jetzt fast ein Jahr. Mit einer vagen Ahnung, dass die Zeit aus dem Gleis gesprungen sein musste, begriff er, dass es tatsächlich erst so kurz her war. Sie hatten sich letzten Sommer auf der griechischen Insel Thasos kennen gelernt, unter optimalen Voraussetzungen – Freiheit, keine Verantwortung, fremdes Milieu, Samtnäch te, Eisprung und warmes Mittelmeer –, aber es war nicht bei einer Urlaubsromanze geblieben. Ich bin nicht der Typ, der sich etwas aus Urlaubsromanzen macht, hatte Marianne nach dem ersten Abend erklärt. Ich auch nicht, hatte er zugegeben. Ich weiß nicht, wieso, aber wenn ich einer Frau in die Augen sehe, dann heirate ich sie normalerweise auch.
    Marianne war der Meinung gewesen, das klänge wirklich fantastisch. Also hatten sie später weiter Kontakt gehalten. In gewissen Abständen, zwei allein erziehende Elternplaneten mittleren Alters, wie er immer dachte, die langsam und unerschütterlich von ihrer Schwerkraft angezogen wurden. Vielleicht sollte es so sein. Vielleicht musste man sich so verhalten, ein schwieriger, aber zielbewusster Brückenbau aus Mut und Vorsicht zu gleichen Teilen. Marianne lebte in Helsingborg und hatte zwei Teenager, er selbst hauste zweihundertfünfzig Kilometer nördlicher – in Kymlinge – mit einer gerade flügge gewordenen Tochter und zwei Söhnen im Ausland. Man konnte also behaupten, dass es eine ziemlich lange Brücke war.
    Ein Hauch von finsteren Gedanken überfiel ihn, als die Sprache auf Lars und Martin kam. Seine Jungen. Sie lebten inzwischen mit ihrer Mutter außerhalb von Kopenhagen, er hatte mit ihnen zwei gemeinsame Wochen zu Sommeranfang verbracht und konnte sich möglicherweise noch auf eine im August freuen – aber das Gefühl, dass er dabei war, sie zu verlieren, ließ sich nicht beiseite schieben. Ihr neuer Ersatzvater hieß Torben oder so und betrieb in Vesterbro ein Yogainstitut. Barbarotti hatte ihn nie kennen gelernt, aber es gab Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass er zumindest eine Spur besser war als sein Vorgänger. Der war ein Wunderwerk von einem Mann gewesen, bis zu dem Tag, als er von einer ernsthaften Sinnesverwirrung befallen wurde und mit einem bauchtanzenden Weltwunder von der Elfenbeinküste entschwand.
    Was habe ich gesagt!, dachte Barbarotti damals,
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