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Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte
Autoren: Hakan Nesser
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einem mangelnden Vertrauen in die Berufsgruppe, die er doch selbst repräsentierte; er bildete sich ein, dass keins von beidem wirklich unvereinbar war mit seinem Weltbild. Lieber Realist als Fundamentalist, das stand auf jeden Fall fest, wobei ein paar Indizien eindeutig in die eine oder andere Richtung gingen.
    Sagte er sich – und wunderte sich gleichzeitig darüber, wie die Frage, ob eine Tür verschlossen werden sollte oder nicht, so viel graue Theorie gebären konnte.
    Aber es schadete ja nicht, das Gehirn schon am frühen Morgen in Gang zu setzen, oder? Seit er in seine armselige Dreizimmerwohnung in der Baldersgatan in Kymlinge gezogen war, vor fünfeinhalb Jahren und in Zusammenhang mit seiner Scheidung, hatte er jedenfalls noch nie ungebetenen Besuch gehabt – bis auf den einen oder anderen zweifelhaften Schulkameraden seiner Tochter Sara, den sie angeschleppt hatte. Man soll an das Gute in seinen Mitmenschen glauben, bis einem das Gegenteil bewiesen wird, dieses Prinzip hatte ihm seine optimistische Mutter versucht einzuprägen, seit er in der Lage war, dass ihm etwas eingetrichtert werden konnte, und es war natürlich ein Lebensmotto, das ebenso gut war wie jedes andere.
    Ansonsten musste es sich um einen besonders blöden Einbrecher handeln, der sich einbildete, hinter einer trivialen Mahagonilaminattür wie dieser hier könnten sich diebstahls- und verkaufswürdige Dinge befinden. Das war auch eine Art von Realismus.
    Aber jetzt schloss er wie gesagt beide Schlösser ab. Was seinen Grund hatte. Die Wohnung sollte zehn Tage leer stehen. Weder er noch seine Tochter sollten einen Fuß hineinsetzen. Sara hatte das übrigens bereits seit mehr als einem Monat nicht mehr getan; direkt nach dem Abitur Anfang Juni hatte sie sich nach London begeben und dort angefangen, in einer Boutique zu arbeiten – vielleicht auch in einem Pub, was sie dann allerdings verschwieg, um ihren Vater nicht unnötig zu beunruhigen – so war jetzt also die Lage.
    Sie war neunzehn Jahre alt, und das Gefühl, amputiert zu werden, als sie abgefahren war, begann ihn langsam zu verlassen. Sehr langsam. Der Gedanke, dass sie nie wieder unter einem Dach leben würden, bohrte sich ungefähr im gleichen Rhythmus in sein Vaterherz.
    Aber alles hat seine Zeit, dachte Gunnar Barbarotti stoisch und schob den Schlüsselbund in die Jeanstasche. Und jedes Vorhaben unterm Himmel hat seine Zeit.
    Zusammenleben, sich trennen und sterben.
    Er hatte vor ungefähr einem halben Jahr angefangen, in der Bibel zu lesen, und zwar auf Anraten von Gott Vater selbst, und es war schon sonderbar, wie oft Worte und Verse daraus in seinem Kopf auftauchten. Auch wenn du wirklich nicht existierst, lieber Herr, dachte er oft, so muss ich doch zugeben, dass die Heilige Schrift ein verblüffend gutes Buch ist. Zumindest teilweise.
    Dem konnte Unser Herr nur zustimmen.
    Er nahm seine Reisetasche in die eine Hand, den vollgestopften Müllbeutel in die andere und ging die Treppe hinunter. Spürte plötzlich eine aufkeimende Freude im Körper. Es hatte irgendwie damit zu tun, dass er die Treppen hinunterging; er hatte sich das schon oft vorgestellt, mit einer einigermaßen hohen Geschwindigkeit eine angenehm sich drehende Treppe hinunterzulaufen – auf dem Weg in die brodelnde Vielfalt des Lebens. Aber war nicht Bewegung der eigentliche Kern des Lebens? Gerade so eine schwingende Bewegung ohne jede Anstrengung? Das Abenteuer, das hinter der Ecke wartete? Ausgerechnet heute stand außerdem noch das Fenster im Treppenhaus sperrangelweit offen, der Hochsommer drängte sich herein, der Duft von frisch gemähtem Rasen reizte die Nasenflügel, und fröhliches Kinderlachen war unten vom Hof her zu hören.
    Ein Mädchen, das wie ein abgestochenes Schwein schrie, auch, aber man musste ja nicht auf alles hören, was sich einem bot.
    Der Briefträger war offenbar Tangotänzer in seiner Freizeit, denn durch einen äußerst eleganten Schritt zurück vermied er es, von der Reisetasche niedergestreckt zu werden.
    »Hoppla. Auf dem Weg in den Urlaub?«
    »Oh, Entschuldigung«, sagte Gunnar Barbarotti. »Habe wohl ein bisschen zu viel Schwung drauf … ja, genau.«
    »Ins Ausland?«
    »Nein, dieses Mal muss Gotland reichen.«
    »Es gibt ja auch keinen Grund, Schweden zu dieser Jahreszeit zu verlassen«, erklärte der ungewohnt redselige Briefträger und zeigte dabei hinaus auf den Hof. »Wollen Sie die heutige Ausbeute mitnehmen, oder soll ich sie in den Kasten stecken, damit Sie noch
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