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Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte
Autoren: Hakan Nesser
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Tiefschlaf, sobald wir im Haus angekommen waren, ohne auch nur die Sandalen auszuziehen.
    Was mich selbst betrifft, bin ich überraschend klar im Kopf. Fast analytisch. Worte und Gedanken haben eine Deutlichkeit, wie sie sie nur des Nachts bekommen können. In gewissen Nächten. Das Meer ist dort draußen in der Dunkelheit zu spüren, sicher sind es immer noch fünf undzwanzig Grad Lufttemperatur. Insekten fliegen gegen die Lampe, ich zünde mir eine Gauloise an und trinke das letzte Glas für diesen Tag. Erik schläft bei offenem Fenster, ich kann sein Schnarchen hören, er hat gut und gern zwei Liter Wein im Blut. Es ist ein paar Minuten nach zwei, es ist schön, endlich allein zu sein.
    Das Paar Malmgren hat sein Haus in der anderen Richtung, auf der anderen Seite der Mousterlinbucht. Insgesamt, die ganze Küste entlang, gibt es bestimmt an die fünfzig Hütten zu mieten, die meisten natürlich ein paar Kilometer landeinwärts, und vielleicht ist es gar nichts Besonderes, dass drei von ihnen an Schweden vermietet sind. Nach allem, was ich von Erik gehört habe, sind sie nicht über die gleiche Agentur gegangen, aber die anderen sind im Großen und Ganzen seit genauso kurzer Zeit da wie wir.
    Drei Wochen mögliches Zusammensein liegen vor uns. Plötzlich stelle ich fest, dass ich dasitze und an Anna denke. Ganz gegen meinen Willen, aber da war etwas an ihrem nackten Gesicht und ihrem nassen Haar, als sie vom Baden zurückkam. Und dieses schlechte Gewissen, wie gesagt. In Katarinas Augen war es etwas anderes, eine Art Sehnsucht.
    Ich hätte natürlich auch Henriks Gesicht mustern müssen, um einen Kontrapunkt zu haben, aber dem war nun einmal nicht so. Die Rolle des Beobachters ist nicht immer einfach einzuhalten.
    Leben oder sterben, das spielt keine Rolle, denke ich. Ich weiß nicht, warum ich gerade das denke.
    Eine Hülle, wir sind nur eine Hülle in der Ewigkeit.
    Kommentar, Juli 2007
    Es sind fünf Jahre vergangen.
    Es könnten genauso gut fünfzehn Jahre oder fünf Monate gewesen sein. Die Elastizität der Zeit ist auffallend, alles beruht darauf, wel chen Ausgangspunkt ich wähle, von dem aus ich meine Betrachtungen anstelle. Manchmal kann ich Annas Gesicht ganz deutlich vor mir sehen, als säße sie mir im Zimmer gegenüber, und im nächsten Moment kann ich diese sechs Menschen sehen, mit mir selbst dabei, aus hoher Höhe – Ameisen am Strand, die in vergeblichen, sinnlosen Pirouetten herumirren. Im kalten Licht der Ewigkeit – und in der Dreieinigkeit von Meer, Erde und Himmel – erscheint unsere Unachtsamkeit fast lächerlich.
    Als hätten sie eigentlich weiterleben können. Als hätte nicht einmal ihr Tod genügend Gewicht und Bedeutung. Aber ich habe einen Entschluss gefasst und werde durchführen, was ich entschieden habe. Die Ereignisse müssen Konsequenzen haben, sonst entgleist die Schöpfung. Einem Entschluss muss gefolgt werden; wenn er erst einmal gefasst wurde, darf er nicht länger in Frage gestellt werden. Diesen dünnen Strich der Ordnung ins Chaos zu zeichnen, das ist alles, was wir vermögen, unsere gesamte Pflicht als moralische Individuen beruht darauf.
    Und sie verdienen es. Die Götter mögen wissen, dass sie es verdienen.
    Das Erste, was mich verblüfft, ist ihre Ahnungslosigkeit. Wie wenig sie an diesem ersten Abend verstanden haben. Diese sechs Menschen in ihren Häusern am Strand; ich hätte meinen Rucksack packen und diesen flachen Küstenstreifen bereits am folgenden Tag verlassen können; hätte ich es getan, wäre alles anders gekommen.
    Aber vielleicht hatte ich gar keine andere Wahl. Es ist ja interessant, dass ich diesen Gedanken dort im Restaurant in Bénodet tatsächlich bereits dachte. Bring die ganze Bagage um und hau ab. Es war bereits da, bereits in diesem Augenblick gab es etwas in mir, das begriff, was so viele Jahre später kommen würde.
    Ich habe mich entschieden, wer der Erste werden soll. Die Reihenfolge an sich ist nicht unwesentlich.

    24. Juli – 1. August 2007
    1
    K riminalinspektor Gunnar Barbarotti zögerte kurz. Dann verriegelte er das Sicherheitsschloss.
    Es gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten. Manchmal machte er sich nicht einmal die Mühe, die Tür überhaupt abzuschließen. Wenn jemand einbrechen will, dann schafft er es so oder so, wie er zu denken pflegte, dann ist es doch nicht nötig, dass auch noch alles Mögliche beschädigt werden muss.
    Möglicherweise zeugten derartige Gedanken von einer Art Defaitismus, möglicherweise zeugten sie von
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