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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte
Autoren: Adam Gidwitz
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Königin kam zurück. Hänsel sah seinen Vater an. Er war über und über mit Blut beschmiert.
    »Vater«, fragte er, »wusste Mutter, dass du der Drache bist?«
    »Nein«, sagte er. »Bis heute wusste ich das selber nicht. Ich bin nur immer wieder an seltsamen Plätzen aufgewacht. Und ich dachte wirklich, dass ich mich beim Rasier…«
    »Versteck dich im Schrank.«
    Der König kletterte in den Schrank. Als er gerade die Tür hinter sich zuzog, betrat die Königin das Zimmer.
    »Wie war es in der Kirche?«, fragte Hänsel.
    Sie nahm die Kinder in die Arme. »Ich kann kaum noch beten. Ich denke immer an den Drachen und an unser armes Königreich.«
    »Was wäre, wenn wir wüssten, wer der Drache ist, und dass wir ihn nur aufhalten können, wenn wir die Person töten?«, fragte Gretel.
    Die Königin sah zwischen ihren beiden Kindern hin und her.
    »Ihr wisst, wer es ist? Dann müsst ihr etwas tun! Auf der Stelle!«
    »Egal, wer es ist?«, fragte Hänsel.
    »Egal, wer es ist.«
    »Es ist Vater«, sagten die beiden Kinder gleichzeitig.
    Die Königin rang nach Luft. Sie sank zu Boden und weinte bitterlich. Nach einer langen Weile sagte sie: »Wenn ihr euch wirklich sicher seid und es beweisen könnt, dann tut es. Ich könnte es nicht. Aber ich würde es verstehen.«
    Die Kinder sahen sich an und sagten dann gleichzeitig: »Wir sind sehr froh, dass du das gesagt hast!« Dann gingen sie zu dem Schrank und ließen ihren Vater heraus, der über und über mit Blut befleckt war.
    Die Königin schrie auf. Dann erzählten Hänsel und Gretel die ganze Geschichte. Die Königin weinte und schlug mit den Fäusten auf die Brust ihres Mannes ein, aber schließlich lachte sie durch ihre Tränen hindurch und umarmte alle. Dann weinte sie wieder. »Ist jetzt alles gut?«, fragte sie.
    »Es geht uns allen gut«, sagten Hänsel, Gretel und der König gemeinsam.
    Und sie umarmten sich so fest sie nur konnten, so fest, wie sie es immer hätten tun sollen – eine große, glückliche, traurige, komplizierte Familie.
    Ende

Fast.

Es tut mir leid. Vor dem endgültigen, absoluten Ende muss ich noch ein letztes Mal eingreifen.
    Einfach so. Aus Spaß.
    Oder um euch zu helfen, die Geschichte zu verstehen. (Obwohl ich das nicht garantieren kann.)
    Warum musste diese väterliche Enthauptung geschehen? Etwas so Schreckliches? So Grauenvolles? So Verstörendes? Warum musste ausgerechnet der Vater der Drache sein? Und mussten die Kinder wirklich seinen Kopf abhacken?
    Und warum mussten all die schrecklichen Dinge vorher passieren? All das Blut, der Schmerz und die Angst. Was für einen Sinn macht das alles? Macht das irgendeinen Sinn?
    Ich weiß es nicht.
    Ich meine, was hat Einsicht und Verständnis mit der Rückkehr nach Hause zu tun? Oder das Abschneiden des eigenen Fingers damit, sich in ein wildes Tier zu verwandeln? Was hat ein altes Weib mit einer Fußfessel mit dem treuen Johannes gemeinsam? Oder drei schwarze Raben mit einem Käfig voller weißer Tauben? Warum ist der Mond gruselig und kalt, die Sterne hingegen hell und freundlich? Warum war die Witwe eine gute Ersatzmutter, konnte aber Gretel dennoch nicht besser beschützen, als es ihre eigenen, schlechten Eltern taten? Was haben diese seltsamen, gruseligen, düsteren, grimmigen Geschichten zu bedeuten?
    Ich habe es schon gesagt. Ich habe keine Ahnung.
    Und – selbst wenn ich es wüsste, würde ich es euch nicht sagen.
    Denn um Schönheit und Weisheit zu erkennen, müsst ihr die düstersten Orte durchqueren. Und in der Dunkelheit kann euch niemand den Weg zeigen.
    Niemand kann euch führen. Nur euer Mut.
    Als Hänsel und Gretel und der König und die Königin sich in den Armen lagen, schwebten die letzten goldenen Schwaden vom Kamin hinaus in die Morgenluft. Die goldene Farbe vermischte sich mit der Farbe des Sonnenaufgangs und breitete sich langsam über das gesamte Königreich aus.
    Als die Menschen an diesem Tag erwachten, konnten sie es sehen. Sie wurden von dem goldenen Rauch, der unter den Wolken schwebte, aus ihren Häusern gelockt und folgten ihm, ohne sich zu wundern und ohne ein Wort zu sagen - als ob sie ahnten, dass etwas passiert sei. Etwas Wichtiges. Und um herauszufinden, was es war, mussten sie nur dem goldenen Nebel folgen.
    Die Straßen füllten sich mit den Bürgern des Königreichs Grimm. Sie liefen in Richtung des goldenen Lichts auf das Schloss zu.
    Der König, die Königin und ihre beiden Kinder saßen auf dem Boden des Schlafzimmers. Blut sammelte sich zwischen den
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