Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte
Autoren: Adam Gidwitz
Vom Netzwerk:
Schritte nicht mehr zu hören waren, setzte sich Gretel auf und zog die Gardinen zurück. Die Sonne ging gerade auf. Sie öffnete das Fenster, ließ die kühle Morgenluft herein und schüttelte ihren Kopf, um die schrecklichen Bilder der Nacht loszuwerden und das bedrückende Gefühl, das zurückgekehrt war.
    »Er wusste Bescheid«, sagte sie. »Er kannte unseren Plan.«
    Hänsel richtete sich ebenfalls auf. Auch er fühlte das Gewicht. Es war beklemmender als zuvor. So, als stünde die ganze königliche Familie auf seiner Brust und auf ihnenauch noch alle Bürger des Landes Grimm. »Hör auf«, sagte er irritiert. »Er hat uns gesehen oder gehört. Kein Mensch außer uns wusste von dem Plan, bis wir auf der Lichtung angekommen waren. Und keiner der Soldaten hat sich von uns entfernt.«
    »Mutter und Vater wussten Bescheid.«
    »Oh bitte«, sagte Hänsel. »Mutter und Vater haben dem Drachen von unserem Plan erzählt?«
    Gretel gab zu, dass sich das lächerlich anhörte.
    Sie sah aus dem Fenster. Das ganze Königreich lag vor ihr in der aufgehenden Sonne. Vielleicht hatte der Drache die goldenen Äpfel gesehen und den Plan erraten. Es war eine ziemlich offensichtliche Falle gewesen. Eine dumme Falle. Eine kindische Falle.
    Aber trotzdem ...
    »Warum hatte Vater einen Verband um seinen Kopf gewickelt?«, fragte Gretel plötzlich.
    »Du hast doch gehört. Er hat sich geschnitten.«
    Gretel nickte. Nach einem kurzen Moment fragte sie: »Und warum hat er gehinkt?«
    »Weil ...«, sagte Hänsel und dann hielt er inne.
    »Hat er sich seine Zehen rasiert?«
    »Warte – ich verstehe das nicht«, murmelte Hänsel.
    Gretel stand auf. »Vater«, sagte sie.
    »Was ist mit ihm?« Hänsel starrte sie an.
    »Vater ist der Drache.«
    »Was?«
    »Wann ist der Drache das erste Mal aufgetaucht?«, fragte Gretel. »Als Vater weg war, weil er nach uns gesucht hat.Wann hat der Drache die Armee des Königreichs zerstört? Als Vater die Armee nicht angeführt hat. Wer kannte unseren Plan? Mutter und Vater.«
    »Aber der Wein – du meintest doch, dass der Drache nicht wusste, was in den Fässern war.«
    Gretel sagte zuerst nichts, aber dann antwortete sie. »Wann haben wir beschlossen, den Wein mitzunehmen?«
    »Erst nachdem wir ihnen unseren Plan erzählt hatten ...«
    »Richtig! Und jetzt hat er einen Verband um den Kopf gewickelt und humpelt.«
    »Nein.«
    »Er ist es.«
    »Aber er ist unser Vater .«
    »Das bedeutet nichts«, sagte Gretel. Auf dem Boden lagen in einem blutigen Bündel die Kleider, die sie im Kampf getragen hatte. Sie stand auf und zog den kleinen Dolch daraus hervor. Dann öffnete sie die Tür zum Saal, drehte sich zu Hänsel um und sagte: »Ich werde den Drachen töten.«
    Gretel ging langsam die Treppe hinunter und durch den Saal zum Zimmer ihrer Eltern. Sie öffnete die Tür. Der König stand in seinem Schlafanzug neben dem Bett. Sein Fuß war bandagiert und Blut drang durch den Verband.
    »Wo ist Mutter?«, fragte Gretel.
    Der König drehte sich überrascht um. »Ich dachte, du schläfst«, sagte er. »Sie ist in der Kapelle. Warum?« Und dann fügte er hinzu. »Gretel, warum hast du einen Dolch dabei? Was ist los?«
    »Du bist der Drache«, sagte sie.
    »Was?«
    »Du bist der Drache!«, schrie sie. Sie ging einen Schritt auf ihn zu. Er ging einen Schritt zurück. Sie ging wieder einen Schritt auf ihn zu. Dann griff sie an.
    »Gretel!«, rief er, als sie den Dolch in seine Brust stoßen wollte. Er trat schnell zur Seite und griff nach ihrem Arm. »Gretel! Hör auf! Hör auf! Was tust du?«
    Genau in diesem Moment trat Hänsel durch die Tür. Er sah, wie sein Vater das schlanke Handgelenk seiner Schwester mit seiner starken Hand festhielt. Sie brüllte ihn an: »Du bist der Drache! Du bist der Drache!«, und versuchte ihn mit der Spitze ihres Dolches zu verletzen. Er schüttelte sie heftig und der Dolch fiel ihr aus der Hand. Er fiel klirrend zu Boden. Der König kickte ihn mit dem Fuß unter das Bett.
    Noch immer hielt er Gretels Handgelenk fest. »Gretel was tust du?«
    Gretels Gesicht war rot und verzerrt vor Wut. »Du hast uns das alles angetan!«, rief sie. »Du hast uns die Köpfe abgehackt! Du bist der Drache! Du hast all diese Menschen umgebracht. Es ist alles deine Schuld! Deine!« Und sie hob ihren kleinen Fuß und stampfte auf seine bandagierten Zehen so fest sie nur konnte.
    Der König warf seinen Kopf zurück und schrie auf vor Schmerz.
    Gretel trat immer wieder auf den Verband. Wieder und wieder. Der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher