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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte
Autoren: Adam Gidwitz
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E s war einmal eine Zeit, in der waren Märchen richtig, richtig toll.
    Ich weiß, du glaubst mir nicht. Kein Wunder. Vor einigen Jahren hätte ich das auch nicht für möglich gehalten. Kleine Mädchen mit roten Käppchen, die im Wald herumhüpfen – das soll richtig, richtig toll sein? Wohl kaum!
    Dann habe ich angefangen, Märchen zu lesen. Die ECHTEN in den verstaubten Büchern mit Leineneinband, die in der hintersten Ecke der Bücherei stehen.
    Diese Geschichten sind viel zu düster für Mädchen mit roten Käppchen.
    Na ja, ein Mädchen gibt es doch. Aber es wird gefressen.
    »Okay«, wirst du vielleicht sagen, »wenn Märchen richtig, richtig toll sein sollen, warum waren dann die, die ich bisher gehört habe, so todlangweilig?«
    Du weißt, wie das mit Geschichten ist. Jemand erzählt eine Geschichte, ein anderer wiederholt sie und verändert sie ein bisschen. Dann wiederholt sie der Nächste und verändert sie noch ein bisschen mehr. Und schließlich erzählt sie jemand seinem Kind u nd lässt die gruseligen, gefährlichen Teile – mit anderen Worten, die richtig, richtig tollen Stellen – einfach weg. Und am Ende handelt die Geschichte nur noch von einem lieben kleinen Mädchen, das durch den Wald hüpft und seiner Großmutter Plätzchen bringt. Und man schläft beim Lesen vor Langeweile ein.
    Die echten Märchen der Brüder Grimm sind ganz anders.
    Zum Beispiel »Hänsel und Gretel«: Zwei verfressene kleine Kinder knabbern das Haus einer Hexe an. Die beschließt im Gegenzug, beide zu braten und aufzuessen – durchaus gerecht, würde ich sagen. Doch bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen kann, sperren die Kinder sie in den Ofen und backen sie zu Tode.
    Was ziemlich cool ist, wie du zugeben musst.
    Aber richtig, richtig toll ist auch dieses Märchen noch nicht.
    Und warum? Weil es nicht die echte Geschichte von Hänsel und Gretel ist.
    Es gibt noch eine ältere Version. Sie zieht sich durch die verstaubten, alten Wälzer in den Bibliotheken wie eine Spur Brotkrumen durch den Wald. Hinweise auf sie findet man in Märchen, von denen du vielleicht noch nie gehört hast, wie »Der treue Johannes« oder »Brüderchen und Schwesterchen« und auch in einigen bekannteren.
    Es ist die Geschichte von zwei Kindern, einem Mädchen namens Gretel und einem Jungen namens Hänsel, die durch ein mystisches und Furcht einflößendes Land reisen. Es ist die Geschichte von zwei Kindern, die ein Ziel verfolgen und scheitern, aber am Ende doch einen Weg finden. Es ist die Geschichte von zwei Kindern, die versuchen, die Welt zu verstehen.
    Bevor ich fortfahre, muss ich euch warnen: Die ursprünglichen G rimms Märchen – die, die nicht für kleine Kinder abgeändert wurden – sind gewalttätig und blutig. Und was ihr nun zu hören bekommen werdet, ist die eine Geschichte, die sich quer durch die Märchen der Brüder Grimm zieht. Und die ist noch blutiger und gewalttätiger, als ihr euch vorstellen könnt.
    Wirklich!
    Falls ihr damit ein Problem habt, legt dieses Buch sofort weg. Denn das Grimm’sche Märchenland kann ziemlich grauenvoll sein.
    Aber es ist einen Ausflug wert. Denn die düstersten Orte sind gleichzeitig auch die, an denen Schönheit und Weisheit am hellsten leuchten.
    Und natürlich auch die, an denen das meiste Blut fließt.



E s war einmal ein Königreich namens Grimm. Der König dieses Landes lag auf dem Sterbebett. Er war der Großvater von Hänsel und Gretel – aber das wusste er nicht, weil Hänsel und Gretel noch nicht auf der Welt waren.
    Moment mal. Ich weiß, was ihr jetzt denkt.
    Natürlich will keiner eine Geschichte hören, die passiert, bevor die Hauptfiguren auftauchen.
    Aber keine Sorge. Diese Geschichte ist anders als jede Geschichte, die ihr zuvor gehört habt. Denn als Hänsel und Gretel auftauchen, geschieht etwas völlig Unerwartetes: Ihnen werden die Köpfe abgehackt.
    Ich dachte, das interessiert euch vielleicht.
    Der alte König wusste, dass er bald sterben würde, und rief seinen ältesten und treuesten Diener zu sich. Der Namedes Dieners war Johannes. Er hatte dem Vater des Königs und dessen Vater und dem Vater des Vaters treu gedient, und deshalb nannten ihn alle den treuen Johannes.
    Johannes schlurfte zur Tür herein. Er trug schwer an seinem buckligen Rücken auf den gekrümmten Beinen, setzte mühsam Fuß vor Fuß und starrte blinzelnd aus seinem einen noch gesunden Auge. Mit seiner langen Nase sog er geräuschvoll die Luft ein und sein faltiger Mund war bis auf zwei
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