Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land
Autoren: Sherko Fatah
Vom Netzwerk:
finden und dort das mitgebrachte Essen zu verzehren oder bei den Fischern einen Shabboot, einen Tigris-Karpfen, zu kaufen. Mein Vater wollte mich belehren.
    Wir gingen zum Suk der Gerber in einem abgelegenen Teil der Stadt. Der Gestank war unerträglich. Barfüßige Jungen arbeiteten hier, deren Körper und Kleidung schmutzbedeckt und verfärbt waren von den undefinierbaren Flüssigkeiten, die sie verwendeten. Auf dem von einer kaum noch sichtbaren, zerfressenen Mauer umsäumten Areal gab es teerschwarze Becken, in denen Tierhäute schwammen. Man konnte meinen, sie lösten sich erst darin von den verfaulenden Kadavern. An einer Stelle blieb mein Vater stehen und zog mich zu sich. Hier griffen zwei der Jungen in verkrustete Kübel und warfen die braune, schlammige Masse auf eine Tierhaut, um sie sogleich damit abzureiben. Sie arbeiteten mit menschlichem Kot, den sie vorher in den Latrinen gesammelt hatten.
    »In Deutschland«, sagte mein Vater, »hat ein Mann über die Zeit nachgedacht.«
    Ich war kurz davor, mich zu erbrechen, und versuchte nicht auf die Kübel zu achten, über denen die Fliegen kreisten.
    »Nichts anderes hat er getan«, fuhr mein Vater fort. »Er sagt, die Zeit Gottes ist eine ganz andere als die der Menschen. Könnte man sie von außen sehen, wäre sie eine Kugel. – Wenn man denken kann, kann man weit fliegen, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Oder man kann Maschinen erfinden, die wirklich fliegen.«
    Die Jungen beugten sich wieder über die Kübel und schöpften die dickeren Reste der Masse vom Grund herauf, genau so viel, dass sie sie verreiben konnten und nichts davon vor der Zeit vertrocknete.
    Auch die Häuser der Reichen sahen wir. Hier verweilte mein Vater nicht. Er ließ mich nur einfach an ihnen vorbeigehen, als wollte er, dass sein Sohn ihre Nähe spürte. Und das tat ich, vielleicht stärker, als gut für mich war.
    Manchmal, wenn ich meinen Vater betrachtete, sah ich eine Figur aus einem dunklen Märchen. Vor langer Zeit einmal war dieser Mann einen dunklen Weg gegangen und die Erinnerung daran hatte er mitgebracht an mein Holzbett, an das Ohr des Knaben, seines einzigen Sohnes. Sie rann ihm wie Wasser von den Lippen. Ich war noch ein Kind damals und fing alle Tropfen auf, machte Wörter aus ihnen.
    Manchmal, in wenigen Momenten, an wenigen Orten könne man die Vergessenen sehen, sagte mein Vater. Kurz nur gebe der Allmächtige sie frei, dann nehme er die Toten wieder in sich auf.
    An der Straße nach Aleppo zeigte er sie meinem Vater, weil er vom Weg abkam, zwischen Sträuchern und Felsen umherirrte, weil er so einsam war in der Nacht wie die kalten Felsen und die zerfetzten Sträucher. Und weil er betete um einen Pfad in der Dunkelheit, denn kein Mond schien, die Sterne waren ausgeblasen vom Wind, der umherirrte wie er selbst. Vater kroch über die Erde.
    »Etwas hat mich angeschaut, ich bin sicher, dort draußen war es, ganz nah, es ging mir voraus, wartete. Es führte mich. Es war schrecklich, so allein zu sein, aber es war nötig, denn ich sollte es sehen.«
    Er kroch in eine Senke hinab, die Erde zwischen seinen Fingern war schwarzer Staub, trocken. Der Fluss, der durch das kleine Tal schoss, wollte nichts zurücklassen.
    An seinem steinigen Ufer legte Vater sich nieder und blickte in den Himmel hinauf, sah das Mondlicht hinter den Wolken sich regen, sah es sich winden im Grau, sah es sich davon befreien und um ihn die Pfähle aufrichten; nach und nach würgte das Dunkel sie aus, einen nach dem anderen.
    Die Männer hingen kopfüber daran, ausgeweidet und gespickt mit großen Nägeln. Kalte Feuerstellen um sie. Vater erhob sich, wich zurück und fand die schwebenden, aufgespießten Frauen hoch über den Reihen von Kindern, deren Köpfe in der Erde steckten. Neben ihnen lagen in Haufen ihre abgetrennten Hände.
    »Wer waren sie?«, fragte ich.
    »Man nannte sie Armenier, sie waren nicht von hier«, flüsterte mein Vater.
    »Hat das ein Ghul getan?«
    »Ja, so war es.«
    »Weil sie Fremde waren?«
    »Der Ghul kennt nur Fremde.«
    »Er hat dich beobachtet, aber er hat dir nichts getan.« Ich weinte.
    »Nein.«
    »Er hatte Angst vor dir, sag, dass es so war.«
    »Ja.«
    Ezra kannte ich aus der Rashid-Straße, war ihm längere Zeit aus dem Weg gegangen. Anfangs hatte ich einfach Angst vor ihm, denn Ezra war zwei Jahre älter und tat ungeheuer erwachsen, wenn er hinter den Kolonnaden entlangspazierte und seine Feunde um sich sammelte. Es gab keinen Grund für ihn, den arabischen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher