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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land
Autoren: Sherko Fatah
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Jungen zu beachten, der sich auf dem Heimweg von der Schule an ihm vorbeischlich.
    Er war hochgewachsen und für sein Alter recht kräftig gebaut. Seine tiefschwarzen Haare waren immer etwas zu lang und zerzaust, dadurch kaschierte er seine abstehenden Ohren. Denn Ezra war eitel, das wusste jeder in seiner Umgebung. Er dagegen hielt es für modern, trug stets Hemd und Hose nach europäischer Art und nie eine Kopfbedeckung. Seine Familie war reich, auch das wusste jeder.
    Dennoch trieb er sich, wann immer er konnte, auf den Straßen herum. Ich wunderte mich darüber, denn eigentlich sah man die Kinder der reichen Händler kaum einmal. Sie hatten eigene Schulen und in ihrer Freizeit blieben sie unter sich. Aber Ezra war anders und schien sich dessen bewusst und stolz darauf zu sein.
    An jenem Nachmittag, an dem ich ihn schließlich doch kennenlernte, hockte er in einer der engen Nebengassen der Rashid-Straße am Boden und rauchte. Es sah aus, als hätte er sich zum Rauchen versteckt, doch das passte nicht zu ihm. Eher schon hatte er diese von Gemüseresten und Holzstücken übersäte Nische gewählt, um allein zu sein. Kopf und Rücken gegen die Hauswand gelehnt, wandte er den Blick langsam zu mir, als ich kurz am Eingang der Gasse verhielt, weil ich ihn erkannte.
    Möglicherweise war Ezra das Alleinsein gerade leid, denn er hob den Arm und winkte mich mit schlaffer Hand zu sich. Ich hielt meinen Bücherbeutel fest umklammert und trat vor ihn wie ein Delinquent. Ich hätte mich nicht fürchten müssen, wir beide kannten uns eigentlich überhaupt nicht. Und dennoch, glaubte ich, gab es länger schon eine geheime Verbindung zwischen uns. Ich hatte diesen Augenblick erwartet, ja, herbeigesehnt.
    »Wie heißt du?«, fragte Ezra und kniff die Augen zusammen, in die der Wind den Rauch trieb. »Was hast du heute in der Schule gelernt, Anwar?«
    Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte und auch weil ich seinem eigentümlichen Interesse misstraute, schwieg ich.
    »Bist ein stolzer Bursche, was? Antwortest nicht auf jede dumme Frage. Haben sie dir etwas erzählt von der Unabhängigkeit Iraks und den goldenen Zeiten, die uns allen bevorstehen?«
    »Nein«, sagte ich und wusste doch, wovon Ezra sprach. Das Thema war fester Bestandteil des Unterrichts.
    »Gib das mal her«, sagte er und hob den Arm.
    Ich hielt den Beutel noch immer wie zum Schutz vor dem Bauch. Widerstrebend löste ich den Griff und gehorchte.
    Ezra riss ihn übertrieben heftig an sich, öffnete ihn umständlich und schüttete den Inhalt vor sich in den Staub. Er blickte auf die Schulbücher und verzog den Mund. Mir kam es vor, als musterte er mich und nicht die Bücher. Die Situation wurde mir unangenehm. Ich war sicher, dass sich Ezra nur langweilte, als er hier alleine hockte. Jetzt hatte er eine Beschäftigung gefunden. Doch dann überraschte er mich. Er sammelte die Bücher sorgfältig ein und blies von jedem einzelnen den Staub, bevor er es wieder in den Beutel tat. Als er ihn mir zurückgab, nickte er gutmütig.
    »Willst du mal etwas anderes sehen als das da?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Wenn du noch etwas Zeit hast, zeige ich es dir.«
    Plötzlich wurde aus meiner Unsicherheit Furcht. Ich klammerte mich wieder an den Bücherbeutel und beobachtete Ezra, der sich von der Hauswand löste und ächzend erhob. Ich tat einen Schritt zurück und als der andere stand und sich die Hosenbeine abstaubte, war ich schon auf dem Weg zur Rashid-Straße.
    Wahrscheinlich blickte Ezra mir nach, doch er sagte nichts. Es war wohl eine Flucht vor all dem, was kommen würde, sagte ich mir später. Eine Flucht zurück in die Kindheit, die damals, an jenem Nachmittag in der schmutzigen Gasse, für mich endete. Jemand muss am Anfang der Geschichte gestanden haben. Nicht mein Vater mit den vielen Ideen vom Fortschritt, nicht der Mullah in der Koranschule oder die Lehrer. Schon gar nicht meine Mutter, die ich nie gekannt habe, weil sie bei meiner Geburt starb und mich zu einem überflüssigen Menschen hat werden lassen. Überhaupt niemand in meiner Nähe. Es musste ein Fremder sein, der mich mitnahm in die Fremde, und eben das tat Ezra.
    An diesem Tag sah ich mein Zuhause mit anderen Augen. Als ich zurück war, begrüßte mich wie immer eine meiner Tanten und trug mir gleich die Pflichten für den restlichen Tag auf. Sie gab mir eine Liste mit Dingen, die ich einkaufen sollte. Bevor mein Vater zurückkam, musste ich noch den Hof fegen und mich um den Ofen für das
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