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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land
Autoren: Sherko Fatah
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daheim, weil er ein Süchtiger ist, der unbeobachtet sein will.
    Am nächsten Tag war der Doktor aus der Stadt verschwunden. Überstürzt hatte er sich auf die Reise gemacht, niemand wusste, wohin. Die Stadtverwaltung bezahlte meine Botendienste weiterhin, denn man hoffte jeden Tag auf die Wiederkehr des Mannes, ohne den die Arbeit im Krankenhaus schwieriger geworden war. Alle hatten sich auf die natürliche Autorität des Arztes eingestellt; als Fremder, noch dazu mit europäischer Ausbildung, genoss er eine Sonderstellung. Man schickte mich zum Bahnhof, dort sollte ich für den Fall einer baldigen Rückkehr bereitstehen.
    So sah ich die Züge ankommen, die Gepäckträger lauern und in den Dampfwolken der Eisenbahnen verschwinden, bevor sie, beladen wie Packesel, daraus wieder auftauchten, um wohlgenährte Familien oder alleinreisende Herren zum Ausgang zu geleiten.
    Einer dieser Männer fiel mir auf. Als ich ihn im flirrenden Licht über den Bahnsteig eilen sah, hatte ich den Eindruck, ihn zu kennen. Verwirrt zog ich mich hinter das Bahnwärterhäuschen zurück und lugte um die Ecke, als wäre ich auf der Flucht. Natürlich zweifelte ich sofort an mir selbst. Die Sache mit den Wiederbegegnungen erschien mir wie eine fixe Idee, die in letzter Zeit von mir Besitz ergriffen hatte.
    Der Mann ging vorbei und ich kniff die Augen zusammen, um ihn so deutlich wie möglich zu sehen. Kein Zweifel, er war ein Jude. Das zu erkennen, fiel mir nicht schwer. Mochte es auch lange her sein, ich hatte oft genug mit ihnen zu tun gehabt. Inzwischen begegnete man ihnen seltener. Doch nicht das bannte meine Aufmerksamkeit. Diesem leicht hinkenden Mann mit dem vorgebeugten Oberkörper und dem zarten Gesicht, das ich nur im Profil sah, war ich schon einmal begegnet. Mit dem Gedanken daran überfielen mich Erinnerungen; ich hörte die schwache, vor Unsicherheit zitternde Stimme des Mannes wieder, sah, wie er sich vor vielen Jahren den Schweiß von der hohen Stirn wischte und mit seinen hinter der Brille ruhelosen Augen sein Publikum nicht direkt anschauen konnte.
    Der Mann hatte mich nicht bemerkt, und als er vorbei war, folgte ich ihm in einigem Abstand. Wenn es Ephraim war, und daran zweifelte ich nicht mehr, dann musste es einen guten Grund geben, warum er jetzt und ausgerechnet hier wieder auftauchte. Kurz fragte ich mich, ob es eine Verbindung geben könnte zum Erscheinen des Doktors, aber sogleich verwarf ich diesen Gedanken wieder. Das ist ein Zufall, sagte ich mir, sie haben nichts miteinander zu tun. Und dennoch überlegte ich fieberhaft, ob es nicht anders sein könnte.
    Am Ausgang zog der Mann seinen Hut tief in die Stirn, blickte sich kurz um, nahm einen tiefen Atemzug und machte sich zielstrebig auf den Weg. Ich verfolgte ihn durch die Gassen, bis er stehen blieb und offensichtlich nicht mehr weiterwusste. Hilfesuchend blickte er sich um, doch sprach niemanden an. Ich beschleunigte meinen Schritt, stand gleich darauf neben ihm und sagte:
    »Kann ich helfen?«
    Der Mann fuhr zusammen und zog sein einziges Gepäckstück, eine schwarze Ledertasche, hinter den Körper. Den Leuten um uns fiel er auf, seine Kleidung war westlich, wenn auch etwas altmodisch. Das jedoch war es nicht allein: Sie starrten ihn im Vorbeigehen an, weil alles an ihm erkennen ließ, dass er nicht nur fremd an diesem Ort war, sondern auch Angst hatte.
    Ich blickte ihm nur kurz in die Augen und wartete. Der Mann zögerte lange, bevor er eine heftige, abwiegelnde Geste machte und weiterging.
    Ich blieb zurück und sah ihm nach. Er hat mich nicht erkannt, dachte ich. Statt ihn weiter zu verfolgen, ging ich zum Bahnhof zurück und überlegte, ob ich das Auftauchen des Juden melden sollte. Es waren schwierige Zeiten und ganz gewiss war Ephraim nicht zur Erholung hier. Er musste eine politische Mission haben. Als ich mich wieder auf dem Bahnsteig postiert hatte, konnte ich nicht mehr den Tauben nachschauen, die durch die Dampfwolken aufwärtsstürzten. Auch die Passagiere mit ihren angestrengten und doch erwartungsvollen Gesichtern interessierten mich nicht mehr. Ich dachte nur noch an Ephraim. Ist es wirklich schon so lange her, fragte ich mich, und als wäre die Antwort darauf zu schmerzhaft, ging ich einem der einfahrenden Züge entgegen, ganz so, als erwartete ich die Ankunft eines alten Bekannten.
    Dr. Stein kam zurück. Mir fiel es erst auf, als ich nach Tagen wieder einmal auf dem Dach saß und Tee trank. Noch immer waren die Vorhänge geschlossen, doch
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