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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz
Autoren: Håkan Bravinger
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12. November 1913:
    Aber ist es nicht allzu unfassbar – allzu absurd glücklich und allzu fantastisch absurd –, was nun geschehen ist?
    Es ist jetzt mindestens 25, vielleicht auch 28 oder 29 Jahre her, seit das »Krankhafte« in meinem sexuellen Gefühlsleben auftauchte. Ich weiß mit vollkommener Sicherheit, dass es bereits in meinen allerersten Schuljahren in meinen Fantasien war, und seither hat es mich nie mehr verlassen.
    Und zu welcher Verzweiflung hat es in meinem Leben geführt – oder richtiger: Zu welcher Zerstörung hat es geführt, von der dieses Krankhafte ein Ausfluss, ein Symptom war; für die es ein Ausdruck war.
    Welch wahnsinnige Zerstörung!
    Ich weiß kaum zu sagen, ob es am verheerendsten in den ganz und gar geisteskranken Fantasien wütete, die sich aus mir ergossen, oder in den verabscheuungswürdigen Höllenorgien, in denen es zeitweise zum Ausbruch kam.
    Und jetzt ist dieses »Krankhafte« in einem Maße aus meinem Leben verschwunden, dass ich es beim besten Willen selbst für einen kurzen Moment nicht greifen kann – dass ich kaum fassen kann, wie es überhaupt möglich war.
    »Meine Geliebte, was hast du mir geschenkt? Welche Wunder hat meine Liebe zu dir in meiner Seele gewirkt? Ach, Geliebte, du hast ja keine Ahnung, was du getan hast! Du ahnst ja nichts von dem, was nun kommen wird!«
    Doch, du ahnst es schon, aber was du erahnst, ist nichts gegen die Wirklichkeit, die uns erwartet.
    Denn nun ist das Wunder vollbracht, und nun kann das Leben jeden Tag losgehen, in rasender Fahrt, vorwärts, vorwärts!
    Wie ist es möglich, dass ich, ich, ich es bin? – der sich so himmelsstürmend gesund und stark fühlt?
    Findest du, dass ich ebenso gut mit dir darüber sprechen könnte, statt hier zu sitzen und darüber zu schreiben?
    Ja, aber ich kann in diesen Tagen über nichts Ernstes sprechen, ich wage es nicht, an etwas Wirkliches in mir zu rühren, um nicht von dem in Stücke gerissen zu werden, was ich nun so gerne aus mir heraus schreiben wollte – ich wage es nicht einmal, hierüber zu schreiben.
    Madeleine hatte seine Stimme noch im Ohr, wie sie damals war, als sie sich gerade kennengelernt hatten. Jene heile, wundervolle Zeit weckte eine solche Freude in ihr, die Stimme, der sie überall in seinen Briefen und den kleinen, verstreuten Notizen begegnete, die er wahllos zurückließ.
    Oft gab es natürlich einen unterschwelligen Ernst, das Unaussprechliche , aber trotzdem, welche Ausgelassenheit!
    Sein Scharfsinn war möglicherweise einzigartig, was man mit der Zeit vielleicht entdecken würde. Wer wusste das schon, andere brillante Talente waren auch erst nach Hunderten von Jahren entdeckt worden!
    Wenn sie die nötige Kraft fand, würde sie sich hinsetzen und seine Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen ordnen. Sobald sie zu Hause war, würde sie anfangen, es gab keinen Grund, nicht sofort damit zu beginnen.
    Sie würde sortieren und datieren, sammeln und ordnen.
    Vielleicht konnte diese Arbeit ihr den Weg weisen und ihr die nötige Kraft zum Weiterleben geben.
    Sie hatte Andreas nie um seine Sehnsucht beneidet, sich dem Leben zu entziehen, diese Sehnsucht, die ihn Jahr für Jahr stärker heimsuchte, je mehr Krankheiten ihn ereilten. Es war ein Gefühl, mit dem sie zunächst nichts anfangen konnte. Sie hatte nur ihre Großmutter sterben sehen, die sich selbst dann noch an das Leben geklammert hatte, als ihre Zeit unter den Lebenden längst abgelaufen war.
    Ihr Todeskampf hatte nichts Gutes gehabt.
    Trotzdem kämpfte sie hartnäckig gegen die Schmerzen und Todesqualen. Ihr letztes Wort war Jesus gewesen. Wer immer ihren Blick in diesem Moment sah, der wusste, dass sie den Namen voller Grauen ausgesprochen hatte.
    Ihr ganzes Leben hatte sie davon gesprochen, vor ihren Schöpfer treten zu dürfen, und als Witwe hatte sie oft über ihren Wunsch gesprochen, ihren Gatten wiedersehen zu dürfen. Trotzdem kämpfte sie bis zuletzt dagegen an.
    So merkwürdig war das im Grunde nicht – man konnte ja nicht wissen, was einen nach dem Tod erwartete. Aber dass ein Mensch, der all die Jahre voller Gottvertrauen zu leben schien, ausgerechnet dann Zweifel hegen musste, wenn er kurz davor stand, die Antwort zu bekommen?
    Das war so herzzerreißend. Andreas glaubte nie an etwas anderes als eine Dunkelheit, die aufziehen würde, wenn das Leben vorbei war und man in ewiger Finsternis versenkt wurde.
    Nicht mehr und nicht weniger.
    Eventuell auch, dass man der Natur zurückgegeben wurde. Ein schöner
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