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Ein unbeschreibliches Gefuehl

Ein unbeschreibliches Gefuehl

Titel: Ein unbeschreibliches Gefuehl
Autoren: Christiane Schlueter
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finstere Kräfte: die Dunkelheit, die Nacht und der Tod. Welch eine Aussage ist das! Die Liebe steht am Beginn der Welt, und sie steht in einer Reihe mit der Erde, die alles Lebende in sich trägt, und mit dem Tod. Sie steht zwischen Leben und Tod. Wie stark muss sie da sein!
    Hesiod erzählt weiter: Gaia gebar den Uranos (den Himmel). Mit ihm brachte sie weitere Kinder hervor. So entstanden nach und nach, über mehrere Generationen, der Ozean, die Sonne, die Zeit und zuletzt die Götter wie Zeus. Die sind aus der griechischen Mythologie dann ja gut bekannt, sie benehmen sich oft wie bloße Menschen, und zuweilen verlieben sie sich sogar in diese. Doch das sind wieder ganz andere Geschichten.
    Eros ist also in der griechischen Mythologie ein Gott der ersten Generation und damit eine der Grundkräfte des Kosmos. Er verfügt über eine entscheidende Macht: über das Begehren. Das Begehren ist lebenswichtig, es sorgt dafür, dass Lebewesen sich miteinander verbinden und sich fortpflanzen. Davon handelt auch die zweite der eingangs genannten Geschichten, diejenige von dem Ei, das die Nacht gelegt hat und aus dem Eros entspringt. Diese Geschichte stammt nicht von Hesiod, sondern sie gehört zur Überlieferung der Orphik, einer altgriechischen Religion. Die Orphiker zelebrierten zu derselben Zeit geheimnisvolle Kulte, da Hesiod die alten Mythen aufzeichnete.
    Hesiod und die Orphiker brauchten keine Psychologie, um auf ihre Weise und doch höchst aktuell zu beschreiben, was passiert, wenn man sich verliebt. Alles Bisherige erscheint dann bedeutungslos, wie ein Nichts. Die Welt wird neu, wie neu erschaffen. Mit der Liebe entsteht ein neuer Kosmos, der nur den beiden gehört, die sich da gefunden haben. Der Mythos von der kosmischen Urkraft des Eros lebt bis heute.
    Hesiod beschreibt Eros als den schönsten der Götter. Wenn er sich einmischt, schmilzt allen – den anderen Göttern wie den Menschen – die Vernunft dahin. »Sanft auflösend«, so sagt es eine alte Übersetzung, fesselt Eros das Denkvermögen. Wer wollte da widersprechen? Wenn das Begehren erwacht, schweigt der Verstand, und das Innere schmilzt dahin, bis die seelischen und körperlichen Grenzen aufgelöst scheinen.
    Aber was ist mit den anderen Kräften, die das Chaos neben der Erde und der Liebe freigesetzt hat? Was ist mit dem Totenreich, mit Finsternis und Nacht, den dunklen Geschwistern des Eros? Wir ahnen schon und wissen aus eigener Erfahrung: Eros wird zu kämpfen haben, er hat mächtige Gegenspieler, auf kosmischer Ebene wie im Mikrokosmos der menschlichen Liebe.
    Rund zweihundert Jahre nach Hesiod beantwortete ein anderer Philosoph solche Fragen auf seine Weise: Empedokles aus Agrigent, einer Stadt im damals griechisch kolonisierten Sizilien. Mittlerweile war man dazu übergegangen, nach dem Urstoff der Welt zu suchen. Empedokles nahm vier Urstoffe an, die sich mischen und wieder voneinander lösen: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Doch welche Kräfte waren dafür verantwortlich, dass sie das taten? Empedokles schrieb zum einen der Liebe, die er nicht Eros nannte, sondern Philotes (Zuneigung), diese Funktion zu. Aber die Liebe muss bei ihm die Macht mit einem Gegenspieler teilen: mit dem Streit (Neikos).
    »Die Liebe … betrachte mit deinem Geiste und sitz nicht da mit verwundertem Blick«, schnauzt Empedokles, der laut Aristoteles übrigens die Rhetorik erfunden haben soll, in seinem Gedicht »Über die Natur« seinen Schüler Pausanias an. Und dann entfaltet er ein großartiges Panorama, das sich in festgelegten Zyklen immer wieder verändert: Viertausend Jahre lang gelingt es der Liebe, die vier Elemente zu einem einzigen, vollkommenen und göttlichen Kugelwesen, genannt Sphairos, zu vereinigen. Doch länger reicht die Macht der Liebe nicht, denn nun übernimmt der Streit. Er spaltet die Kugel langsam wieder auf. Feuer, Wasser, Erde und Luft beginnen sich aus der Vereinigung zu lösen und auseinanderzufallen. Sechstausend Jahre dauert dieser Zerfall. Dann sind die vier Elemente gänzlich voneinander getrennt und ruhen als konzentrische Schichten aufeinander: innen die Erdkugel, umschlossen von einer Hülle Wasser, darüber von der Luft, und ganz außen liegt das Feuer.
    Wiederum viertausend Jahre später beginnt die Liebe ihre Kraft wieder zu entfalten. Die erstarrten und voneinander geschiedenen Schichten kommen in Bewegung, sie durchmischen sich und bilden zuletzt wieder jenes vollkommene Kugelwesen, das jedoch nach viertausend Jahren unter
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