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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz
Autoren: Jessica Thompson
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pass auf, dass keinem was passiert, okay?«
    Keon rutschte wieder voller Unbehagen hin und her. Die hohe Mauer links von ihnen war mit bunten Graffiti besprüht, die der Stadtrat nicht hatte übermalen lassen, weil sie als Kunst galten. Während Keon sie betrachtete, dachte er kurz über den feinen Unterschied zwischen Straftat und Kunst nach. Was ich tue, ist doch sicherlich keine Straftat, oder?, dachte er. Die Waffe, die er bei sich trug, wollte er nicht benutzen; er wollte damit nur jemanden einschüchtern. Einen Eindruck hinterlassen. Etwas verändern.
    Ein betrunkener Mittfünfziger wankte an ihren Busch und blieb einen Augenblick lang stehen. Die Jungen konnten ihn durch die Blätter und Zweige gerade eben so erkennen; sie sahen schütteres graues Haar, eine gefurchte Stirn, eine Tweedjacke und eine braune Hose. Der Mann schwankte hin und her und versuchte, die Titelmelodie von Coronation Street zu pfeifen, bekam es aber nicht hin.
    »Verfluchte Scheiße   …«, flüsterte Keon.
    Die beiden rührten sich nicht. Ihre Augen glänzten im Straßenlicht. Der Mann stabilisierte seinen Stand, dann zog er sich den Reißverschluss herunter und begann auf den Busch zu pinkeln, nur ein paar Zentimeter von Steve entfernt. Steve verzoggequält das Gesicht, fletschte die Zähne und ballte die Faust. Der Uringestank stand rings um die beiden in der Luft.
    Keon verkniff sich ein Lachen, blickte auf seine Air-Force-1-Turnschuhe und lenkte sich ab, indem er einen Fleck von der Spitze des linken Schuhs rieb. Schließlich ging der Mann mit dem schütteren Haar und der Tweedjacke wieder weiter.
    »Das war knapp, Alter«, sagte Steve. Er klang mehr als nur ein bisschen sauer.
    »Der Typ hat gepisst wie ein Kamel«, erwiderte Keon, das Gesicht vor Heiterkeit verzerrt. Doch sofort senkte sich wieder das Schweigen über beide, und die Luft war zum Schneiden. Der Regen fiel jetzt dichter.
    23.41 Uhr.
    Plötzlich waren Schritte in dem Durchgang zur U-Bahn zu hören, die zur Straßenebene hinaufstiegen; sie begannen leise und mit großem Hall und wurden immer lauter und schärfer. Das könnte jeder sein, dachte Keon.
    Die üblichen Pendler und Kneipengäste, die an der Bushaltestelle auf die W3 warteten, waren fort, und der U-Bahnhof und seine Umgebung menschenleer. Die Jungen gingen in die Hocke, eine Hand am Boden, wie Olympiasprinter, die auf den Startschuss warteten. Auf das Signal zum Angriff.
    Keon war es schlecht.
    »Da ist er!«, rief Steve plötzlich und stieß Keon in die Außenwelt, ehe er eine Chance hatte, noch zu kneifen. Der Busch spie ihn auf die Straße, seine Füße polterten über den Boden.
    Ricky, ein großer weißer Typ in einer schwarzen Jacke, ging mit übergezogener Kapuze, den Kopf nach vorn gebeugt, damit er keinen Regen ins Gesicht bekam.
    Keon eilte auf ihn zu. Sein Herz klopfte so heftig, dass er kaum die Finger ruhig halten konnte. Die Aufregung machte ihn fertig, seine Beine fühlten sich an wie Gummibänder. Mit drei langen Schritten hatte er Rick erreicht. »Komm her, du blöde Sau!«, brüllte Keon, riss ihn an der Schulter herum und hielt ihm die Pistole vor die Brust.
    Aber dann hörte er es.
    Einen Schuss. Einen Knall, der so laut war, dass Keon glaubte, er wäre von anderswoher gekommen. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf. Nein! Das konnte doch nicht sein? Sein Zeigefinger zuckte wieder, die Pistole hing locker in seiner rechten Hand am Ende des herunterbaumelnden schlaffen Arms neben dem Knie. Aber der Abzug war so weit an den Griff zurückgezogen, wie es nur ging. Das musste er getan haben.
    Vielleicht träumte er nur, vielleicht war es nur ein Albtraum? Die Sorte, bei der man aufwacht und im Bett aufrecht sitzt und um Atem ringt, die Beine in einer Masse aus verschwitzten Laken verfangen?
    Ricky wandte sich ihm zu und krümmte sich dabei in unverhohlenem, nacktem Schmerz zusammen. Jede Bewegung schien in Zeitlupe abzulaufen.
    »Oh, Scheiße«, keuchte er, einen Ausdruck grenzenlosen Entsetzens in den Augen. Er hielt sich mit der rechten Hand die Brust, und ein Rucksack fiel auf den Boden.
    Doch das Gesicht, in dem der Schmerz der letzten Lebenssekunden stand, war nicht Rickys Gesicht   … Die ängstlich zusammengepressten Lippen gehörten nicht Ricky. Die Wangen, aus denen jede Farbe verschwunden war, passten nicht   …
    Keon sah sich nach Unterstützung um. Steve haute gerade ab, er hörte nur noch seine in der Ferne verhallenden Schritte auf der Straße. Weg. Nirgendwo zu
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