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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Christa Wolf
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Kenntnis zu setzen, werden sie auch als Faksimiles abgedruckt.
    Gerhard Wolf, November 2012

Donnerstag, 27. September 2001

Berlin
     
 
    Ich erwache von einer Stimme, die laut sagt: Ein Riß im Gewebe der Zeit. Ich lausche dieser Stimme nach, beglückt über die Wahrheit, die sie ausspricht, ehe mir bewußt wird, wo ich bin; daß es früher Morgen ist, daß ich im Bett liege, und je mehr Realität mein Bewußtsein widerwillig zuläßt, um so mehr schwindet das Gefühl der Beglückung; ich habe lernen müssen, daß Wahrheit nicht glücklich macht, weil sie allein nichts bewirkt. Aufdringlich, so als gehörten sie zur Realität (und sie gehören ja auch dazu), entstehen auf meinem inneren Bildschirm die letzten Bilder von CNN , die ich heute nach Mitternacht noch gesehen habe und mit denen ich schwer einschlafen konnte, obwohl ich nicht versäumt hatte, die zwei Kapseln Baldrian-Dispert zu nehmen: Der Sender verzichtete nicht auf das Wort Krieg: »America's War Against Terrorism«.
    Mit einem Schlag sind die Gefühle von Spannung und Angst wieder da, die dieser Realität entsprechen und die schon so oft in meinem Leben den Tagesanfang begleiteten. Heute also die Frage: Haben die Amerikaner heute nacht ihren angedrohten Vergeltungsschlag gegen Afghanistan – oder gegen wen sonst? – unternommen? Da ich mir einreden kann, es sei noch zu früh, um aufzustehen, drücke ich mich noch etwas vor der Antwort – ganz anders, erinnere ich mich, als damals, als der Golfkrieg begann: Da hockte ich um vier Uhr nachts vor dem Fernseher und sah, was ich sehen sollte: Das Feuer, das der Landung der amerikanischen Truppen an derKüste Kuwaits vorausging. Ich weinte und mußte dann in der Zeitung lesen, ich sei gegen Israel, wenn ich diesen Krieg nicht gutheiße, um viel später zu erfahren, daß die junge Frau, die mit ihrem Augenzeugenbericht über die von entmenschten Irakern ermordeten kuwaitischen Babys die letzte moralische Rechtfertigung für die Bombardements geliefert hatte, die Tochter eines Angehörigen der kuwaitischen Botschaft in den USA war, die kein ermordetes Baby zu Gesicht bekommen hatte.
    Ich gebe mir also noch eine Frist, ehe ich aufstehe, und ziehe aus den verrutschenden Bücherstapeln auf meinem kleinen gläsernen Nachttisch dasjenige Buch heraus, das zu »den Ereignissen« – so nennt man sie inzwischen – der letzten Wochen am besten, was heißt: unheimlich genau zu passen scheint: »City of God« von E. L. Doctorow, welches man, wenn man wollte, als einen Beweis mehr dazu gebrauchen – mißbrauchen? – könnte, daß für sensible Einwohner von New York lange schon eine Vorahnung von Katastrophen in der Luft gelegen haben muß, die sie zu einer intensiven Suche nach einem Grund für ihre Angst und für ihre moralische Unruhe trieb. »Es bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit. Wenn die Demographen recht haben, werden um die Mitte des kommenden Jahrhunderts zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Gigantische Megastädte überall auf dem Planeten, voller Menschen, die um dessen Ressourcen kämpfen. Unter solchen Umständen werden die Gebete der Menschen als Schreie zum Himmel schallen. Und unseren Hoffnungen auf ein Leben, wie es sein könnte, werden solche Schändungen, solche Schocks widerfahren, daß das zwanzigste Jahrhundert zum verlorenen Paradies werden wird.«
    Jenes zwanzigste Jahrhundert, denke ich, das Historiker doch, nicht einmal zwei Jahre ist das her, mit dem Signum»grauenvollstes Säculum der Menschheitsgeschichte« verabschiedet hatten; das mich nur einmal direkt in eine seiner Katastrophen hineingezogen, es mir sonst aber gestattet hatte, an einer seiner gefährlichsten Konfliktstellen zwar spannungsreich, äußerlich aber vergleichsweise unbehelligt zu leben. – Die Denkmaschine ist also wieder angesprungen. Ich stehe auf, ziehe den Vorhang zurück, ein trüber Tag, wie all die trüben Tage seit dem 11. September.
    Gerd ist schon in der Küche, Kaffee oder Tee? fragt er. Tee. Im Bad drücke ich sofort auf den Knopf des kleinen schwarzen Radios. Nein. Es ist noch nicht Krieg. Der Kreuzzug hat noch nicht begonnen. Der Ring der Antiterrorkoalition um Afghanistan schließt sich. Auch die ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Aserbaidschan und Usbekistan gehören dazu. Der Westen, höre ich, sprich: die USA hätten seit längerem ein Interesse an ungestörtem Öltransport durch Afghanistan. Während ich dusche, mich anziehe – bequeme Sachen, vorläufig kann ich zu
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