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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Christa Wolf
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übrigen Tagebuch, nicht nur in ihrer Struktur, auch inhaltlich und durch stärkere thematische Gebundenheit und Begrenztheit. Aber auch sie waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt, wie etwa jene anderen Texte es von vorneherein waren, die den Ablauf eines Tages zum Anlaß für ein Prosastück nehmen: »Juninachmittag«, »Störfall«, »Was bleibt«, »Wüstenfahrt« – Beweisstücke für meine Faszination von dem erzählerischen Potential in beinahe jedem beliebigen Tag. Dagegen bedurfte es eines ausdrücklichen Entschlusses, diese Aufzeichnungen zu publizieren, in denen das »Ich« kein Kunst-Ich ist, sich ungeschützt darstellt und ausliefert – auch jenen Blicken, die nicht von Verständnis und Sympathie geleitet sind.
    Warum tut man das. Meine Erfahrung ist: Von einem bestimmten Zeitpunkt an, der nachträglich nicht mehr zu benennen ist, beginnt man, sich selbst historisch zu sehen; was heißt: eingebettet in, gebunden an seine Zeit. Ein Abstand stellt sich her, eine stärkere Objektivität sich selbst gegenüber. Der selbstkritisch prüfende Blick lernt vergleichen, wird dadurch nicht milder, vielleicht etwas gerechter. Man sieht, wieviel Allgemeines auch in Persönlichstem steckt, und hält für möglich, daß das Bedürfnis des Lesers, zu urteilen und zu richten, ergänzt werden kann durch Selbstentdeckung und, im günstigsten Fall, Selbstwahrnehmung.
    Subjektivität bleibt wichtigstes Kriterium des Tagebuchs. Dies ist ein Skandalon in einer Zeit, in der wir mit Dingen zugeschüttet und selbst verdinglicht werden sollen; auch die Flut scheinbar subjektiver schamloser Enthüllungen, mit denen die Medien uns belästigen, ist ja kühl kalkulierter Bestandteil dieser Warenwelt. Ich wüßte nicht, wie wir diesem Zwang zur Versachlichung, der bis in unsere intimsten Regungen eingeschleust wird, anders entkommen und entgegentreten sollten als durch die Entfaltung und auch durch die Entäußerung unserer Subjektivität, ungeachtet der Überwindung, die das kosten mag. Das Bedürfnis, gekannt zu werden, auch mit seinen problematischen Zügen, mit Irrtümern und Fehlern, liegt aller Literatur zugrunde und ist auch ein Antriebsmotiv für dieses Buch. Es wird sich zeigen, ob die Zeit für ein solches Wagnis schon gekommen ist.
    Aber der ausschlaggebende Grund dafür, diese Blätter zu publizieren: Ich denke, sie sind ein Zeitzeugnis. Ich sehe es als eine Art Berufspflicht an, sie zu veröffentlichen. Unsere jüngste Geschichte scheint mir Gefahr zu laufen, schon jetzt auf leicht handhabbare Formeln reduziert und festgelegt zu werden. Vielleicht können Mitteilungen wie diese dazu beitragen, die Meinungen über das, was geschehen ist, im Flußzu halten, Vorurteile noch einmal zu prüfen, Verhärtungen aufzulösen, eigene Erfahrungen wiederzuerkennen und zu ihnen mehr Zutrauen zu gewinnen, fremde Verhältnisse etwas näher an sich heranzulassen …
    An der Authentizität der Texte habe ich festgehalten. Leichte Kürzungen wurden vorgenommen. In einigen Fällen mußten Sätze aus Gründen des Personenschutzes gestrichen werden.
    April 2003

 
    Christa Wolf hat die Aufzeichnungen zu ihrem 27. September, wie sie seit 2003 als Buch vorliegen (»Ein Tag im Jahr. 1960-2000«), fortgeführt. Zunächst, um sie getreulich zum eigenen Selbstverständnis festzuhalten, wobei sie schon für das erste Jahr 2001 von diesem Vorhaben Abstand nahm, als sie das Manuskript bei einem Treffen vorlas, das Bundeskanzler Gerhard Schröder am 23. Januar 2002 mit Schriftstellern im Kanzleramt veranstaltete (veröffentlicht wurde der Text in der »neuen deutschen literatur«, Heft 543, Berlin 2002, und im Band »Mit anderem Blick«, Frankfurt/M. 2005).
    Die Texte sind hier nach den Maßgaben abgedruckt, wie sie die Autorin selbst festgelegt hat, nach den Fassungen, die als Ausdrucke aus ihrem Computer, also gewissermaßen von ihr zunächst autorisiert, zur Verfügung standen. Wir weichen in zwei Fällen, in denen uns nur die ersten handschriftlichen, also unbearbeiteten Manuskripte vorlagen, von diesem Ausgabeprinzip ab: 2008 konnte Christa Wolf die Ereignisse des Tages nicht sofort aufzeichnen, weil sie nach Operationen im Krankenhaus dazu nicht fähig war und nur in dieser handschriftlichen, nicht korrigierten Fassung später ihrer Pflicht nachkommen wollte, des Tages zu gedenken. 2011 schließlich hat sie auch dazu nicht mehr die Kraft. Am 27. September bricht sie mitten im Schreiben ab. Um von diesen Handschriften authentisch in
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