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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Christa Wolf
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    Ich mache das Dressing für den Salat, Gerd kocht ein Gericht nach einem Fernsehrezept, Pasta mit Spinat vermischt, eine Sahne-Käse-Lachssauce dazu. Beim Essen erörtern wir die Chancen der verschiedenen Parteien und Kandidaten für die Berliner Wahlen im Oktober. Schon jetzt sagen die Umfragen ein grundsätzlich unterschiedliches Wählerverhalten in Ost- und Westberlin voraus: Im Osten die PDS mit 36 % voraussichtlich stärkste Partei, im Westen die CDU in gleicher Höhe – eine wiederum geteilte Stadt. Wer das vor elf Jahren vorausgesagt hätte … Aber auch hier: Die Gründe dafür werden kaum untersucht, meistens wird den undankbaren Ost-Wählern unbegreifliche Nostalgie unterstellt. Doch sei zu beobachten, daß unter dem Eindruck »der Ereignisse vom 11. September« Ost- und Westdeutsche »enger zusammenrückten«. Also der Affekt gegen den gemeinsamen Feind soll die Probleme der deutschen Vereinigung lösen helfen? Unwahrscheinlich.
    Müde. Hingelegt. Nehme noch einmal den Doctorow zur Hand. Er läßt mich nicht im Stich. Er läßt Sarah Gruen, die New Yorker Reformrabbinerin, zu ihrer kleinen Gemeinde an der Upper West Side sagen – mit der sie die »von Menschen geschriebene Bibel« erforscht, also auch die Übergabe der Gesetzestafeln an Moses: »Was ich hier wahrnehme, was sich mir hier aufdrängt, ist der Eindruck, daß die Verfasser wußten, wie ethisch unauslotbar das menschliche Leben ist. … Diebiblischen Köpfe, welche die Zehn Gebote geschaffen haben, die ihrerseits der Zivilisation eine Struktur verliehen haben … schufen die Möglichkeit zu einem ethisch geformten Leben.« Der Zivilisation eine Struktur verleihen … Der Satz hat etwas Tröstliches, finde ich, ehe ich einschlafe. Ich bin dann wieder einmal in einer Art Labyrinth ineinander übergehender leerer Räume, halb unterirdisch, glaube ich, Frauen kommen und gehen, die ich nicht kenne, aber ich weiß, eine Katastrophe steht bevor und muß verhindert werden. Wir instruieren uns gegenseitig, wie das zu geschehen hat. Jedenfalls muß eine eher primitive Vorrichtung, die fast unsichtbar in eine der glatten Wände eingelassen ist, unbedingt ständig überwacht werden, am besten durch mich. Als ich einmal rausgehe, gebe ich die Instruktion an eine jüngere Frau weiter: Wenn die Katastrophe einzutreten droht, muß man mit dem Fingernagel an einem kleinen Rädchen drehen, das übrigens exakt der Stellvorrichtung an meinem Wecker gleicht. Ich gehe also hinaus und erfahre beinahe sofort: »Die Katastrophe« naht. Ich renne in den Raum zurück. Da sitzt die junge Frau vor dem Rädchen, unglücklich, und hält einen Finger hoch: Ihr Fingernagel ist abgebrochen. Sie hat das Rad nicht weiterdrehen können. Jetzt ist es zu spät.
    Na, sagt Gerd, ganz schön eingebildet, meine Liebe. Wir decken in der Veranda den Kaffeetisch, B.s kommen, aus Halberstadt. Draußen ist es noch düsterer geworden, Regen hat eingesetzt. Helmut will mit uns über ein Problem reden, das ihm zu schaffen macht. Es sind Anschuldigungen gegen seinen alten Lehrer Hans Stubbe aufgetaucht, den bekannten Genetiker, der nach dem Krieg in Gatersleben, Sachsen-Anhalt, ein Institut für Kulturpflanzenforschung aufgebaut hat, das wir gut kannten, wo wir auch Professor Stubbe trafen, der große Verdienste hatte um die Genetik in der DDR , erzeigte Zivilcourage und konnte die Lyssenkoschen Pseudotheorien von der Vererbung erworbener Eigenschaften abwehren, ich habe damals ein längeres Porträt über ihn geschrieben. Nun wird ihm plötzlich postum aus westlichen Quellen vorgeworfen, er sei während des Krieges beteiligt gewesen am Raub von Saatgut aus der UdSSR . Helmut ist soweit wie möglich in das Material eingedrungen und hält diesen Vorwurf für unhaltbar. Soll er sich nun bei der Feier zu Stubbes hundertstem Geburtstag nächstes Jahr überhaupt damit auseinandersetzen? Oder soll er nicht besser – ausgehend von Stubbes wissenschaftlicher Leistung und seinem Standpunkt zu dem Problem »Freiheit und Verantwortung des Wissenschaftlers« – die Frage nach dem Recht, vielleicht sogar der Pflicht des Genetikers stellen, aufgrund der neuen Forschungsergebnisse in Lebensprozesse einzugreifen, die noch vor kurzem tabu waren? – Ich kann aus Mangel an Sachkenntnis keinen nützlichen Rat geben, neige aber zu der zweiten Version. Wir verabreden, daß wir zu dem Colloquium zu Stubbes Ehren mal wieder nach Gatersleben kommen werden, daß ich nach vielen Jahren, nach
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