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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Christa Wolf
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Jahrzehnten, rechnen wir aus, einmal wieder dort lesen soll. Wir erinnern uns an unsere lebhaften, kritischen Diskussionen über Genetik und Politik damals, in einem anderen Leben.
    Als Kuriosum hat Helmut die Ablichtung einiger Seiten aus einem neuen Essay von Peter Hacks über die Romantik mitgebracht, in dem dieser über die »Konterrevolution« in der DDR im Herbst 1989 behauptet, sie sei »von mindestens zwei sowjetischen Geheimdiensten, auch wohl von denen unterstellten Kräften im Staatssicherheitsdienst der DDR ins Werk gesetzt. Nach außen hin einberufen wurde sie von Künstlern … Kein Arbeiter, kein Bauer und kein Wirtschaftsleiter« habe sich »an der Abschaffung des SED -Staates beteiligt«. DieSchriftsteller ihrerseits, unter anderem auch ich durch »Kein Ort. Nirgends«, bereiteten diese Konterrevolution durch hemmungslose Propagierung der deutschen Romantik vor, und wir wollten sie eigentlich schon 1976, durch unseren Protest gegen die Ausbürgerung Biermanns, auslösen, lese ich. Aber »die Regierung der DDR wünschte damals noch nicht zurückzutreten und stellte die Sache ab« – Hut ab. Darauf muß man erst mal kommen.
    Abfahrt zur Literaturwerkstatt am Majakowskiring, zum Gesprächskreis. Inzwischen regnet es richtig. Die zwei Lampen links und rechts vom Eingang brennen. Ich betrachte das Haus nicht ohne Wehmut: Wir tagen hier heute zum letzten Mal. Im Dezember muß die Literaturwerkstatt ausziehen, wir mit ihr – das Haus hatte vor 1933 jüdische Besitzer, jetzt verwaltet es die Jewish Claims Conference, die es verkaufen will, für einen Preis, den der Senat von Berlin nicht zahlen kann. Seit fast zehn Jahren waren wir einmal im Monat hier, die meisten Leute, die nach und nach hereinströmen, kenne ich, und sie kennen sich untereinander, die Atmosphäre ist vertraut, in Grüppchen setzt man sich auf seine Stammplätze, der Andrang ist größer als sonst, anscheinend ist das Bedürfnis groß, miteinander zu reden – noch dazu, wo das Thema, das schon vor drei Monaten festgelegt wurde, beinahe übertrieben brisant ist: »Rom und Amerika – einzige Weltmächte ihrer Zeit«.
    Peter Bender als Referent skizziert, wie diese beiden durch zwei Jahrtausende voneinander getrennten Mächte – durch Halbinsel- bzw. Insellage begünstigt – in einem lange währenden Gefühl der eigenen Unverwundbarkeit einem Isolationismus anhingen, dann durch Kriege gezwungen wurden, sich in das Weltgeschehen einzumischen, ihre Macht immer weiter auszudehnen und schließlich die jeweils einzige Großmacht ihrer Zeit zu werden, bis eine von ihnen, Rom, an ihrer Übermacht und inneren Ohnmacht zugrunde geht. Neben vielen anderen Unvergleichlichkeiten zwischen dem Römischen Imperium und dem Informal Empire of America sind es die zu höchster Vollkommenheit entwickelten Waffen, mit denen Amerika sich unverwundbar zu machen sucht und die, jedenfalls in diesem Fall, durch neunzehn selbstmordbereite Männer mit Teppichmessern ausgeschaltet wurden. Noch nie sei eine Zivilisation so verwundbar gewesen wie die unsere. Zweihundert Jahre insularer Sicherheit seien für die USA in wenigen Stunden zu Ende gegangen, und wie sie diesen Schock verarbeiteten, sei für uns alle von existentieller Bedeutung.
    Die Diskussion, lebhaft wie immer, noch ernsthafter als sonst, hakt sich zuerst an der Frage fest, ob denn wirklich, wie behauptet, nach dem 11. September nichts mehr so sei wie davor. Die Auseinandersetzung mit dieser neuen Herausforderung gehe doch nach dem alten Muster vor sich, Gewalt gegen Gewalt, unser Verhalten sei doch schnell wieder in die alten Geleise gesprungen. Aber was gebe es denn für eine Alternative, wird dagegen gefragt, verstünden Terroristen denn eine andere Sprache? Auf diese Frage habe ich gewartet. Zu gut kenne ich das Gefühl, zwischen falschen Alternativen mit dem Rücken an der Wand zu stehen und mich nur noch für Falsches entscheiden zu können, zu genau weiß ich: Dies ist ein sicheres Symptom dafür, daß eine Gesellschaft sich in einer grundlegenden Krise befindet, sage ich, und daß es lebenswichtig wäre, dieses Signal nicht wieder zu übersehen und zu überfahren. Doch wo gibt es die gesellschaftlichen Kräfte, die das politische und das wirtschaftliche Establishment zwingen könnten, die blinden Flecken wahrzunehmen, die, von ihrer Arroganz, ihrer Selbstgewißheit und natürlichihrem falsch verstandenen Interesse erzeugt, sie daran hinderten, die Realität zu sehen und zu erkennen, daß
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