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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Christa Wolf
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einen moderaten Knall, dann wieder die Trompete: Entwarnung. Ein paar Arbeiter gehen zu einem kleinen Krater. Ich kann ein verqueres Überlegenheitsgefühl nicht ganz unterdrücken: Da hat unsereins schließlich ganz andere Krater gesehen. Die Szene kann ich mir mühelos heraufrufen: April 1945. Unser Treck auf einer Landstraße in Mecklenburg. Die Flugzeuge,sehr tief. Das amerikanische Hoheitszeichen. Das Gesicht des Piloten als weißer Fleck in der Kanzel, die versprengten Bomben im Feld. Das gezielte Maschinengewehrfeuer. Und der Landarbeiter, der dann an meiner Stelle tot im Straßengraben liegt. Nein. Wer es erlebt hat, kann nicht für den Bombenkrieg sprechen. Kann von den »Kollateralschäden«, die ihn begleiten, nicht absehen. Von der Überzeugung, daß der Zweck nicht alle Mittel heiligt. Und von der Einsicht, daß die Bomben auch die Widersprüche im eigenen Land zudecken und zudecken sollen. Jedenfalls, als erstes, den Widerspruch. Schon hört man von der Disziplinierung von Lehrerinnen, die sich nicht an die Sprachregelung gehalten haben. So schnell? denke ich. Angst, daß unter all den Beliebigkeiten, mit denen die Spaßgesellschaft uns abgelenkt hat, nun doch die wirklichen Probleme auftauchen könnten, denen die etablierten Institutionen nicht gewachsen sind?
    Ich zwinge mich, auch an diesem Tag wenigstens ein paar Zeilen an dem Text zu schreiben, der eigentlich das Zentrum eines jeden Tages sein sollte. Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller wiedergeben, Mr. Doctorow? Nun denn, dagegengehalten: In dieser Warenwelt, die alles unter sich begräbt, hat Schreiben nur noch Sinn als Selbstversuch, einschneidend, sezierend, die feinsten Verästelungen der Person herauspräparierend und bloßlegend. Ein altmodisches Konzept, und eine Erklärung dafür, daß dieses langwierige Schreibwerk schier unüberwindliche Hindernisse um sich aufbaut. Heute aber geht es um eine von den leichteren Übungen: Eine Szene bei Woolworth in der Second Street von Santa Monica, wo ich eine Lampe kaufe in einem langen Karton, die ich in meinem Apartment an meinen Eßtisch schrauben werde, um dort Arbeitslicht zu haben. Ich schildere also, wie mich in der Schlange vor der Kasse ein jüngerer schwarzer Mann anspricht, dessen Slang ich schwer verstehe, der mir ein Päckchen mit Süßigkeiten in die Hand drückt, die ich für ihn bezahlen soll, er gibt mir eine Dollarnote, die ich zuerst nicht annehmen will, worauf er aber besteht; er müsse nur mal schnell zur Toilette, verläßt mit langen Schritten das Geschäft, wie immer dauert der Akt des Bezahlens und Einpackens bei der ungeschulten Verkäuferin endlos lange, dann stehe ich da, warte, der Mann kommt nicht, hat er mich an der Nase herumgeführt, auf einmal steht er hinter mir, here you are!, erleichtert halte ich ihm sein Päckchen und das Wechselgeld hin, der vorher ruppige junge Mann ist wie verwandelt, lächelt, strahlt, thank you very much, madam!, herzlicher Abschied, anscheinend war das ein Test, anscheinend habe ich ihn bestanden, schreibe ich.
    Ein Rundfunkkommentator im Küchenradio hält den Satz des amerikanischen Präsidenten: »Wer nicht für uns ist, ist für unsere Feinde«, in diesen Zeiten leider, leider für angebracht. Vielleicht weiß er nicht, daß das einmal unterdrückte kritische Denken, wenn »diese Zeiten« wieder vorbei sein sollten, nicht so einfach wieder anzuknipsen ist. – C. kommt und zeigt mir Briefe, in denen sie und ihre Verwandten und Bekannten Mitglieder der Bundesregierung beschwören, auf keinen Fall ein Bundeswehrkontingent in den Afghanistan-Krieg zu schicken. Mehr können wir nicht tun, sagt sie.
    In der Post die übliche Menge von Einladungen zu Ausstellungen und anderen Events, die in ihrer Fülle eher bewirken, daß ich zu Hause bleibe. Ein Brief von UNICEF : Man solle doch die monatliche Spende ein wenig aufrunden und auf Euro umstellen.
    Unsere Freundin E. schickt uns eine Seite aus dem »Tagesspiegel« von gestern. Sie ist überschrieben: »Das feige Denken« und bringt als Mittelleiste, steckbriefähnlich neben- unduntereinandergereiht, Fotos von Intellektuellen, die dieses »feigen Denkens« bezichtigt werden. »Künstler und Intellektuelle flüchten sich in antiamerikanische Ressentiments.« Gute Namen werden da mit aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen zitiert. Fehlt nur, daß ihre Adressen und Telefonnummern angegeben werden, damit der Volkszorn sie erreichen kann. – Wir sehen uns an. No
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