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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Christa Wolf
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Hause bleiben –, höre ich, Hunderttausende von Flüchtlingen verlassen Afghanistan in Richtung Pakistan, oder sie ziehen sich aus den von Bombardements bedrohten Städten aufs Land zurück – in beiden Fällen haben sie keine Nahrungsmittel, die UNO warnt vor einer »humanitären Katastrophe« und fordert Millionen, um das Schlimmste zu verhindern, und ich, unverbesserlich, muß mir für den Bruchteil einer Sekunde vorstellen, die an dem künftigen, schon als unausweichlich akzeptierten Krieg beteiligten Länder, allen voran die USA , würden die Hälfte der Milliarden Dollar, die dieser Krieg verschlingen wird, nicht auf die Unterstützung ihrer Rüstungsindustrie durch die Erzeugung neuen Bedarfs verwenden, sondern diese Unsummen den vom Hungertod bedrohten Menschen für Nahrungsmittel, Medikamente, für den Aufbau ihres schon jetzt zerstörten Landesund für die Bestechung ihrer anscheinend käuflichen Stammesführer geben und so womöglich künftigen Terroristen Boden entziehen … Unrealistisch? Um so schlimmer für die Realität. Rasend schnell, denke ich, gleitet die gute alte »Wirklichkeit« ins Absurde ab, die Grenzen des Erzählbaren scheinen immer mehr zu schrumpfen. Darüber wäre zu schreiben, denke ich. – Doch wozu?
    Wortkarg sitzen wir am Frühstückstisch, Gerd hat seine geliebten Körner gemacht, Buchweizengrütze, die wir nebst ihrer authentischen Herstellungsart einst in Moskau kennengelernt haben, die wir uns manchmal von dort mitbrachten und jetzt in jedem Bioladen kaufen können. Wir reichen uns mit knappen Bemerkungen die Zeitungsblätter zu, Bin Laden, »der meistgesuchte Mann der Welt«, ist also angeblich untergetaucht, die Taliban behaupten, ihn nicht zu finden, die USA , heißt es, legen es im Bündnis mit der »Nordallianz« darauf an, die Taliban zu vernichten, die Afghanistan unter ihrer Knute halten – besonders die Frauen, die rechtlos und grotesken Bestrafungen ausgesetzt sind, wenn sie die Gesetze übertreten, welche angeblich aus dem Koran abgeleitet wurden. Ich überfliege die Nachrichten, einige davon noch vor wenigen Jahren unvorstellbar – Putins Auftritt vor dem Bundestag, die CDU in Hamburg, die vier Prozent bei den Wahlen verloren hat, sieht darin den klaren Wählerauftrag, die Regierung zu bilden, und zwar mit Herrn Schill, dessen rechte Partei aus dem Stand fast zwanzig Prozent erreichte, die USA verzichten auf den militärischen Beistand der NATO , die Deutschen übernehmen die Führung bei der neuen Mazedonien-Mission, Peres und Arafat beschließen neue Sicherheitskooperation, der DAX , der in den letzten Tagen in den Keller gerutscht war, hat sich etwas erholt: Dies, denke ich, ist die wichtigste Nachricht, die »Normalität«, die die GlobalPlayers anstreben und die wohl auch wir, wenig DAX -interessiert, wünschen müssen, frage ich mich, denn nolens volens sitzen wir alle in dem Boot, dessen Kurs die Börse bestimmt. Fragezeichen. Obwohl auch die Rückkehr zum Business as usual, so sehr Tausende von Schicksalen daran geknüpft sein mögen, eher zu den virtuellen Phantomen gehört, von denen ich mich umgeben sehe, und nicht zur Wirklichkeit, denke ich.
    Denn »wirklich«, wenn dieses Wort noch etwas bedeutet, ist der Riß im Gewebe der Zeit. Das weiß ich, obwohl ich es da noch nicht so ausdrücken konnte, seit jener Minute am Nachmittag des 11. September, als auf dem Fernsehschirm im Zimmer meines Lektors (wo wir an einem Text gearbeitet hatten, jäh unterbrochen durch Gerds Anruf: Schaltet den Fernseher an!) kurz nacheinander zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme von New York rasten und, während mein Gehirn noch ungläubig nach Erklärungen suchte, mein Körper schon begriffen hatte und jenes unangenehm ziehende Gefühl erzeugte, das mir immer anzeigt, daß etwas Unwiderrufliches, zumeist Schreckliches passiert und daß ich die Umstände, unter denen ich diesen Augenblick erlebe, nie vergessen werde: Kriegsbeginn 1939. Flucht aus der Heimatstadt Januar 1945. Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968. – Im Alter wäre ich gerne von Geschichte verschont geblieben. Wie gerne hätte ich meine Enkelkinder in ein friedlicheres Jahrhundert entlassen.
    Ich erinnere mich, daß zwei Fragen kurz nacheinander in mir auftauchten, während ich, hypnotisiert von unglaubwürdigen Fernsehbildern, in dem fremden Zimmer stand: Fängt so der Dritte Weltkrieg an? Und: Ist das der Anfang vom Ende? Ich fing an, mich an diesen Fragen
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