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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Christa Wolf
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abzuarbeiten, während ich mein Manuskript zusammenpackte und dann lange aufdas Taxi warten mußte, das ein ganz alltäglicher Stau aufgehalten hatte, während über das Autoradio die aufgeregten fassungslosen Stimmen der Reporter kamen und der Fahrer, ein bedächtiger Mann, zu meiner Erleichterung Erschrecken und Mitgefühl zeigte; seitdem haben diese Sätze mich begleitet, als Behauptungen, als Zweifelssätze, als Fragesätze, und sie haben wechselnde Antworten hervorgetrieben, von denen keine mir genügt. – Ich weiß noch, wie auf jener unwirklichen Taxifahrt die Gesichter meiner amerikanischen Bekannten und Freunde in mir auftauchten und wie ich gleichzeitig, da ich die ganze Zeit aus dem Autofenster blickte, die Häuser, Straßen und Plätze meiner Stadt mit anderen Augen sah: Als mögliche Ziele für blindwütige Zerstörung.
    Es ist fast zehn Uhr, als ich die Zeitung weglege, die Küche aufräume, die Wäsche aus der Waschmaschine nehme und im Bad aufhänge, alle die Handgriffe, die das Gewebe des Alltags ausmachen und, in ihrer Summe, das Gewebe der Zeit; die mich jeden Tag aufs neue stören, da sie mich angeblich von der »eigentlichen« Arbeit abhalten, und die mich doch, je älter ich werde, jeden Tag aufs neue befriedigen: der kostbare Alltag. Nachdem ich die Betten gemacht habe, hocke ich mich auf den Bettrand und blättere in dem Doctorow, auf der Suche nach einem bestimmten Satz, der mir endlich auch ins Auge sticht: »Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben«, lese ich, »kann kein Schriftsteller wiedergeben.« Direkt und lakonisch, wie man es sich nur wünschen kann. Dies werde ich mir jetzt also notieren, mit der gleichen grimmigen Genugtuung, mit der ein Patient sich die hoffnungslose Diagnose seines Arztes anhören würde. Als wüßte ich das nicht schon lange, sage ich mir, während mein Computer warm läuft. Wie lange? Nicht zu beantworten. Manche Einsichten erreichen dich, über Zeiträume verteilt, in homöopathischenDosen, denke ich, ein schlaues Manöver des psychischen Abwehrsystems, um die Arbeitsfähigkeit nicht mit einem Schlag zu vernichten.
    Doch als ich an jenem 11. September nach Hause kam, Gerd vor dem Fernseher fand, die Zwillingstürme wieder und wieder einstürzend, wußte ich, dies würde meine Arbeitsfähigkeit für unbestimmte Zeit zum Erliegen bringen. Ich setzte mich auf den Drehstuhl an meinem Schreibtisch, blickte mich sehr langsam in meinem Zimmer um, das mit all seinen Büchern, Möbeln, Bildern und Apparaten Beständigkeit vortäuschte, aber was galt noch?, und mein Blick fiel auf eine Postkarte, ein Schwarzweißfoto, das steht jetzt vor mir auf dem Manuskriptständer. Es zeigt Brecht in New York, auf einer Terrasse sitzend, Zigarre rauchend, nach oben blickend, hinter ihm ragen die Türme von New York auf – jene vergleichsweise bescheidenen Türme, die es 1946, als Ruth Berlau dieses Foto machte, schon gab: Das Empire State Building zum Beispiel. Ich weiß noch, daß ich dachte: Hätten sie es damit nicht genug sein lassen können? Hätten sie nicht an das Gleichnis vom Turm zu Babel denken können? An den Zorn des biblischen Gottes angesichts unserer Hybris? Oder an Brechts frühe Zeilen: »Wir sind gesessen, ein leichtes Geschlechte / In Häusern, die für unzerstörbare galten / (So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan / Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten). / Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!«
    Brecht und viele andere deutsche Emigranten, denke ich – vor Jahren habe ich noch einige wenige alte jüdische Frauen in ihren New Yorker Wohnungen besuchen können –, sie alle hätten nicht überlebt, wenn es New York nicht gegeben hätte, die Stadt der Flüchtlinge, die auch diese Deutschen aufnahmund sie vor ihren mörderischen Landsleuten rettete, welche sich gerade eines beispiellosen Rückfalls in die Barbarei befleißigten.
    Das Telefon. C., die Sekretärin unseres Vereins für das ehemalige Jüdische Waisenhaus, wie wir ihn verkürzt nennen: Die Ausstellung »Jüdisches Leben in Pankow«, die im Foyer des Krankenhauses »Maria Heimsuchung« hängt, sei teilweise mit Naziparolen und Hakenkreuzen besprüht worden. Die Kriminalpolizei sei schon da … Also auch hier. Das Krankenhaus liegt, Luftlinie gerechnet, keine hundert Meter von uns entfernt. Es ist eine Pest. Ein Bazillus, der sich in unsere schöne heile reiche Welt eingefressen hat und sie von innen her
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