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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt
Autoren: Ewald Arenz
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genau das Wetter, das sie liebte. Und sie hatte so spät gefrühstückt, dass sie nicht zu Mittag essen musste. Sie machte sich belegte Brote, holte sich Tomaten aus dem Garten und ein Buch aus Papas Arbeitszimmer und ging zur Remise zu ihrem Fahrrad. Sie spannte ihre Sachen auf den Gepäckträger und suchte dann auf der Werkbank nach einem Stück Gummi, das sie zu einer Dichtung für den Tankdeckel an der Maschine zuschneiden konnte, denn der schloss nicht richtig. Als sie ihn gefunden hatte, sah sie auf der Werkbank einen Schlüsselbund liegen. Erst dachte sie, Paul hätte ihn vergessen, aber an dem Bund war ein Schlüssel, den sie kannte. Sie hatte ihn oft genug in der Hand gehabt. Es war der große Kirchenschlüssel. Sie war sich nicht sicher, ob es Papas Bund war. Mit einem zunehmend komischen Gefühl probierte sie die Schlüssel an Haus- und Hintertür und wusste dann, dass er nicht ihrem Vater gehörte. Keiner passte. Und es gab nur noch einen anderen Menschen, der einen Kirchenschlüssel hatte. Schwarz war in der Remise gewesen! Luise spürte, wie sie wütend wurde. Er konnte es nicht lassen! Er spionierte Papa immer weiter hinterher, hörte einfach nicht auf zu schnüffeln! Und war dumm genug, seinen Schlüssel zu vergessen. Aber vielleicht war er auch gestört worden. Vielleicht hatte sie ihn gestört, als sie heute Morgen so unerwartet heimkam. Es war ein unheimliches Gefühl – vielleicht war er in der Remise gewesen, als sie das Fahrrad eingestellt hatte. Sie war froh, dass Georg den Hektografen in die Scheune geholt hatte. Wenn er hier Flugblätter gefunden hätte! Sie musste Georg warnen, dass er immer die Matrizen vernichtete! Sie wog den Schlüsselbund in ihrer Hand, und ihr kam ein neuer Gedanke. Sie hatte jetzt schließlich auch alle Schlüssel zum Mesnerhaus. Das war nicht schlecht. Das war gar nicht schlecht.
    Sie ging nachdenklich zu ihrem Fahrrad und stieg auf. Vielleicht konnte man den Spieß ja auch umdrehen. Sie musste sich mit Georg darüber besprechen. Aber während sie aus der Stadt fuhr, wurde sie wieder wütend, als sie an Papa und Schwarz dachte. Es war so unfair, dass ein so kleiner, schiefer, böser Mann einem großen Mann, einem klugen Kopf, einem guten Mann so leicht etwas antun konnte, ihn so leicht vernichten konnte! Es war so unfair, dass es die Bosheit so viel leichter hatte. Aber sie spürte den schweren Bund in ihrer Tasche und lächelte grimmig. Papa konnte das nicht. Aber sie schon. Sie würde einen Weg finden.

    Der Wind und die Sonne, dieser vorweggenommene, klare Herbsttag, durch den sie da fuhr, hinaus aus der Stadt, an den Apfelbäumen entlang, und das Gefühl, in Bewegung zu sein, mit oder gegen den Wind, das machte, dass sie froh wurde. Wir leben, dachte sie, noch leben wir. Das alles nehmen sie uns nicht weg, das gehört uns genauso wie ihnen.
    Sie fuhr durch ein paar Dörfer, bis sie das Ende des Tals erreichte, wo der Wald begann. Ein kleiner Bach floss da durch den Wald bergab; ein Rinnsal eigentlich nur, aber das Wasser war dort so kalkhaltig, dass es sich über die Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte ein eigenes Bett aus Kalkstein gebaut hatte. Ein hüfthoher, moosbewachsener Damm führte durch den Wald bis hoch zur Quelle. Es war eine der wenigen Attraktionen für Sommerfrischler in dieser Gegend, aber heute waren nur ganz vereinzelte Wanderer unterwegs, und Luise schob ihr Fahrrad den Waldweg neben der Rinne hinauf. An einer Stelle, wo das Wasser sich an einem Absatz sammelte und einen See nachahmte, ganz en miniature, klar und kreisrund, aber nicht größer als zwei Hände breit, schöpfte sie ein wenig Wasser und trank. Es schmeckte, wie Wasser schmecken sollte: nach nichts, aber frisch und gut.

    Als sie aus dem Wald kam, war ihr warm, doch hier, bestimmt dreihundert Meter über der Stadt, ging der Wind kräftig, und es war kühler. Sie stieg wieder auf und radelte noch ein paar Kilometer, ließ sich treiben, fuhr hier einen Feldweg entlang und nahm dort eine Abkürzung durch ein Waldstück, aber sie behielt doch immer ungefähr die Richtung zur Feldscheune bei. Es war Erntezeit. Auf vielen Feldern wurde gearbeitet, und ab und zu musste sie absteigen, um ihr Fahrrad an einem wartenden Gespann vorbeizuschieben. Nur ganz selten sah man einen Traktor – die meisten Bauern hier waren nicht reich und konnten sich keine Maschinen leisten.
    Bei St. Egid passierte sie das Sägewerk und den aufgelassenen Marmorsteinbruch. Jetzt war sie tatsächlich allein. Es
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