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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt
Autoren: Ewald Arenz
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ein wenig müde. Aber sobald sie auf freiem Feld anlangte, war es schon hell genug, um den Weg gut zu sehen, und sie klappte den Dynamo zurück. Und dann begann ohnehin die lange Abfahrt ins Tal hinab, zur Stadt. Trotzdem brauchte sie fast eine Stunde, bis sie an der Stadtmauer angekommen war und am Graben entlangfuhr. Wie oft sie damals, vor sechs Jahren, erst in den Morgenstunden heimgekommen war. Was für ein dummes Mädchen sie gewesen war, und wie sie nicht gemerkt hatte, wie frei, wie leicht damals alles war. Aber, überlegte sie, als sie durch das kleine Tor und schließlich mit leisem Schutzblechklappern über das Pflaster der Gasse zu ihrem Haus rollte, damals hatte sie nicht geliebt. Georg, dachte sie voller Glück, Georg!
    Leise stellte sie das Fahrrad in die Remise, leise schloss sie die Tür auf und leise ging sie durch den Gang, doch dann hörte sie aus dem Amtszimmer ein seltsames Geräusch. Einen Augenblick lang dachte sie erschrocken an den General, es hatte sich wie ein Winseln angehört.
    »Papa?«, fragte sie flüsternd durch die Tür. Es war still. Sie wartete kurz, aber hörte nichts weiter und wollte eben die Treppe hochgehen, als sich die Tür doch öffnete. Da stand ihr Vater, blass, mit roten Augen und voll angezogen.
    »Bist du schon auf?«, fragte Luise sehr überrascht. »Bist du krank?«
    Er sah sehr schlecht aus.
    »Nein«, sagte er, erfasste wohl erst jetzt, dass Luise eben heimgekommen war, wollte etwas sagen, schwieg aber dann doch und war im Begriff, sich wieder in sein Zimmer zurückzuziehen.
    »Papa«, bat sie. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. »Was ist?«
    Er schüttelte nur den Kopf und schloss die Tür. Luise zögerte kurz und war schon auf halber Treppe, als sie sich entschlossen umdrehte, zurückging, klopfte und dann die Tür öffnete. Er saß an seinem Schreibtisch, hatte aber nicht gearbeitet. Ein Glas stand auf dem Schreibtisch, doch die Flasche Wein daneben war nicht entkorkt. Sie zog sich den Stuhl, auf dem sie als Kind schon gesessen hatte, wenn sie im Amtszimmer war, auf die andere Seite des Schreibtisches und setzte sich, ohne etwas zu sagen. Sie wartete einfach und merkte, wie sie dabei ruhig wurde.
    »Sie haben mich nicht einmal geprügelt«, sagte ihr Vater leise, ohne sie anzusehen. »Uns Pfarrer haben sie nicht … sie haben uns meistens nicht geschlagen. Uns ist es noch gut gegangen.«
    Er klang bitter und fast hasserfüllt, und Luise brauchte einen Moment, bis sie merkte: Es war nicht der Hass auf die Täter. Es war, als ob er sich selbst hasste.
    »Aber was sie mit den anderen gemacht haben …«
    Er drehte sich um und sah aus dem Fenster in den Garten. Das graue Licht der Frühe begann sich ganz zart zu färben, unmerklich fast. Luise dachte an einen anderen Morgen, an dem sie nach Hause gekommen war und ihren Vater im Garten hatte stehen sehen, der Sonne zugewandt und singend.
    »Ich habe ein Papier unterschrieben, weißt du«, sagte er dann. »Sie lassen dich eine Erklärung unterschreiben, dass du nie erzählen darfst, was im Lager geschieht, sonst entlassen sie dich nicht. Du darfst nicht erzählen, dass du gesehen hast, wie sie Leute hinrichten, weil sie eine Seite aus einer kommunistischen Zeitung benutzt haben, um sich den Hintern abzuwischen auf der Latrine.«
    Luise war nicht imstande, irgendetwas zu sagen. Ihr Vater sah immer noch in den Garten, als könne er nicht verstehen, dass die Welt dort draußen so schön war.
    »Manchmal, wenn sie nur Spaß machen«, sagte er, »werfen sie einen, der nicht schwimmen kann, in die Latrine. Und weil du nicht weißt, wie tief die Grube ist, strampelst und schreist du …«
    Er brach ab, seine Stimme erstickte in Tränen. Luise stand auf und ging hinüber zu ihm, so voller Mitleid, dass sie spürte, wie ihr selbst die Tränen kamen. Sie kniete sich vor ihn.
    »Ich … ich kann nicht wieder dorthin, Luise«, sagte er verzweifelt. »Ich … manchmal denke ich, ich habe dort meinen Glauben verloren.«
    Plötzlich wurde er fast laut, es war ein unterdrückter Schrei: »Ich dachte, ich bin stark. Ich bin es nicht. Ich kann … ich möchte die Wahrheit sagen, aber ich kann es nicht mehr. Ich kann es einfach nicht.«
    Er saß da, die Hände auf dem Schoß, und die Tränen tropften ihm vom Gesicht auf ihre Hände, die sie auf seine gelegt hatte. »Ich kann nicht dorthin zurück«, flüsterte er.
    Luise sagte lange nichts. Sie hielt die Hände auf seinen, schließlich stand sie auf und zog ihn zu sich, und
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