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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt
Autoren: Ewald Arenz
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nicht. Sie wusste selber nicht, warum sie das gesagt hatte. »Ich habe es gelesen«, antwortete sie und konnte nicht verhindern, dass sie rot wurde. Sie las alles, was mit Fliegen zu tun hatte und was man aus der in dieser Hinsicht jämmerlich bestückten Stadtbibliothek bekommen konnte. Und seit sie mit Georg zusammen das Flugzeug baute, hatte sie ihren Vater sogar dazu gebracht, ein paar modernere Bücher über die Flugtechnik für die Pfarramtsbibliothek anzuschaffen, die wahrscheinlich nie jemand außer ihr verwenden würde.
    »So«, sagte Dr. Mandl wieder in gewohnt spöttischem Ton, »recht ungewöhnliche Lektüre für ein junges Mädchen.«
    Aber er zog sein schwarzes Büchlein heraus und trug ihr mit dem Bleistiftstummel eine Note ein. »Sie werden sich sehr gut machen in München«, bemerkte er noch, als er sich wieder zur Tafel umdrehte.
    Luises Freude über das Lob verflog, und sie sah wieder nach draußen. München. Sie wollte nicht nach München. Sie wollte nicht studieren. Sie wollte keine Lehrerin werden.
    Ein Summen war zu hören. Luise sah sich nach der Biene um, aber die war längst durch die offenen Fenster wieder in die Rapsfelder geflogen. Die blühten gerade. Das Summen wurde lauter und tiefer. Luise lehnte sich aus dem Fenster, so weit sie konnte, und drehte den Kopf, damit sie so viel wie möglich vom Himmel sehen konnte. Und dann war das Flugzeug schon über der Stadt. Es flog zu hoch, als dass sie hätte erkennen können, was für ein Typ es war, aber auf dieser Linie flog nur die Süddeutsche Aero-Lloyd, und die hatten fast nur Junkers in der Flotte. Luise sah dem Flugzeug nach, bis es den Himmelsausschnitt, den sie von hier sehen konnte, verlassen hatte. Es waren nur fünf- oder sechshundert Meter. Das konnte sie hier unten in zwei Minuten rennen. Hier unten. Und dann war da wieder diese Sehnsucht nach der großen Grenzenlosigkeit; danach, sich einfach in alle Richtungen bewegen zu können, nicht nur vor- oder rückwärts. Ganz frei zu sein, nicht nur halb. Auf einmal war sie so traurig, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.
    Da klingelte es durch die hallenden Gänge des Schulhauses.
    Die Stunde war vorbei.

    Als sie um kurz nach zwölf Uhr nach Hause ging, spürte man schon an allen Ecken der Stadt die Samstagsgeschäftigkeit, die aufflammte, nur um dann am Nachmittag in einer immer größeren Stille zu enden. Vor den Häusern wurde die Straße gekehrt, auf dem Markt wurden schon die Stände abgebrochen und die Salatstrünke, die Pferdeäpfel und zerbrochenen Kisten auf den Mistkarren geworfen.
    Aus den Küchenfenstern in den engen Straßen roch es hier nach kochenden Kartoffeln und Kohl, dort nach Gebratenem und Bohnen und natürlich überall nach roter Grütze oder Johannisbeermarmelade, weil am Samstag ja auch eingekocht wurde und gerade die Beerensaison war. Luise, die für das Frühstück keine Zeit gehabt hatte, weil sie so spät wie möglich aufgestanden war, spürte auf einmal einen wütenden Hunger und beeilte sich. Nach dem Essen würde sie mit Papa reden, nahm sie sich vor. Sie würde ihm sagen, dass sie nicht nach München wollte. Jetzt wurde sie trotz ihres Hungers langsamer. Wieso fiel es ihr so schwer, ihm das zu sagen? Sie war sonst nicht so zurückhaltend, wenn sie etwas von ihm wollte. Sie nutzte es schon manchmal aus, die Jüngere zu sein, das Nesthäkchen. Aber das hier war dann doch anders. Es schien Papa so wichtig zu sein, dass sie auf ein Gymnasium ging; es schien so wichtig zu sein, dass sie studieren konnte. Vielleicht wollte er das aber auch nur, weil er dachte, er müsse irgendetwas gutmachen oder so. Weil sie ohne Mutter aufgewachsen war. Aber sie wollte nun mal weder Lehrerin noch Ärztin werden.
    Sie holte tief Luft, stieg die drei Stufen zur Haustür hoch und läutete. Innen bellte der Hund.
    Gutes Tier, dachte Luise in einem Anflug von Bosheit, denn der Mesner fiel ihr wieder ein. Wenn ein Tag schon so anfing!
    Luana öffnete. Sie trug eine Schürze, aber es gab nichts, was Luana nicht stand. Immer sah sie perfekt aus, wie die Persilfrau auf der einzigen Litfaßsäule der Stadt. Aus der Küche duftete es; nur nicht so wie in den anderen Häusern der Stadt. Reis, erkannte Luise, die anderen Gerüche kamen ihr nur vage vertraut vor. Ein bisschen zitronig roch es noch, und exotisch herzhaft.
    »Luana, ich falle um vor Hunger!«, bekannte sie, und Luana lächelte sie an.
    »Geh Hände waschen, ich habe schon gedeckt. Wir können gleich essen. Paul ist
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