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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt
Autoren: Ewald Arenz
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Kirchplatz herauskam. Jetzt war sie gleich zu Hause, und sie fiel schnell atmend in Schritt. Sie ging eben unter den Chorfenstern vorbei, als sich die Sakristeitür öffnete und der Mesner herauskam. Er sah sie sofort, und Luise hätte gerne die Augen nach oben gedreht. Ausgerechnet er! Was musste der in aller Herrgottsfrühe in der Kirche sein!
    »Guten Morgen«, sagte sie so unbefangen, wie sie konnte, als sei es normal, dass sie kurz vor fünf durch die Stadt rannte.
    »Morgen«, antwortete der Mesner knapp und sah sie misstrauisch an. Sie ging weiter, als sei gar nichts, aber sie ärgerte sich. Bestimmt würde er Papa bei nächster Gelegenheit sagen, dass er sie gesehen hatte, und sie musste sich irgendetwas ausdenken, um zu erklären, wieso sie frühmorgens draußen gewesen war.
    »Luise«, rief er ihr halblaut mit seiner immer etwas gequetscht klingenden Stimme hinterher. Sie blieb resigniert stehen und drehte sich um.
    »Ja?«, fragte sie.
    Der Mesner sah sie an. In seinem Gesicht bewegte sich nichts. Dann sagte er: »Euer Hund hat die ganze Nacht gebellt.«
    »Tut mir leid«, antwortete Luise automatisch. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie den Mesner ja gestern verkohlt und ihm erzählt hatte, der Hund sei tot. Sie wartete. Der Mann, hager und in seinem grauen Kittel, den er immer in der Kirche trug, musterte sie. Sein Blick war unangenehm. Luise fühlte sich, als sei sie nur halb angezogen.
    »Ich habe für euch gebetet«, sagte er dann, »das solltest du auch tun. Lügen ist eine Sünde.«
    Damit wandte er sich zum Gehen. Luise atmete tief ein. Was für ein Mensch, dachte sie, so was kann es nur hier geben. Sie sah ihm nach, bis sie sicher war, dass er verschwunden war und ihr nicht nachging. Er brauchte ja nicht unbedingt zu sehen, wie sie über die Mauer zurück in den Pfarrgarten kletterte und nicht durch die Haustür ging. Die Sonne war jetzt tatsächlich aufgegangen, und Luise rannte die letzten hundert Meter durch die Glockengasse bis zu der Stelle, wo die Mauer außen einen Vorsprung hatte, auf den man steigen konnte. Man musste dann auf der Mauerkrone noch ein paar Meter laufen, um zum Dach des Hühnerstalls zu kommen, aber da standen innen im Garten Bäume, die einen weitgehend verdeckten. Luise sprang aus dem Lauf auf den Vorsprung, stieß sich ab und zog sich die Mauer hoch. Sie wollte eben aufstehen, als sie durch das Laub des Apfelbaums ihren Vater auf der Terrasse stehen sah. Er war nackt und hatte die Arme weit geöffnet über den Kopf erhoben. Sein Gesicht war der Sonne zugewandt, und zum Glück hatte er die Augen geschlossen. Lichtgebet hieß das, und früher hatte Luise das oft genug mitmachen müssen. Sie kauerte auf der Mauer und musste auf einmal grinsen. So hatte jeder seins: Wenn der Mesner wüsste, dass der Stadtpfarrer morgens nackt auf der Terrasse die Sonne anbetete, würde er wahrscheinlich tot umfallen. Freikörperkultur, Reformkost, Anthroposophie – das waren vermutlich alles Wörter, die er noch nie gehört hatte. Es war schlimm genug, dass Papa auch noch Vegetarier war und bei all den Hochzeits- und Tauffeiern kein Fleisch aß. Das verstand hier keiner.
    Jetzt summte er tonlos eine Melodie. Obwohl er mager war und man seine Rippen zählen konnte, hatte er einen ziemlich breiten Brustkorb, der sich im Rhythmus hob und senkte. Luise barg kurz in komischer Verzweiflung das Gesicht in den Händen. Unter ihr die Gasse, wo sie jederzeit jemand auf der Mauer sehen konnte, auf der anderen Seite ihr nackter Vater im Garten. Großartig! Sie beschloss, es darauf ankommen zu lassen, erhob sich und schlich, so leise es ging, auf der Mauer vor zum Hühnerstall. Ihr Vater bemerkte sie nicht, und schließlich glitt sie lautlos von der Mauer auf das Dach des Stalls, bekam ihr Fensterbrett zu fassen und kletterte in ihr Zimmer. Geräuschlos schlüpfte sie aus den Schuhen, aus der Leinenhose und ihrer Bluse und hinein ins Bett. Sie sah auf ihren Wecker. Anderthalb Stunden, bis er klingelte.
    Gott, dachte sie erschöpft, was für ein Morgen. Aber dann war sie schon eingeschlafen. Draußen begann ihr Vater zu singen, leise, aber vernehmlich und mit schöner Stimme, »Du güldne Sonne«, und in der Stadt brach der Tag an.

5

    Eigentlich mochte Luise die Samstage. Am Samstag hatte sie nur vier Stunden Schule und konnte schon um elf Uhr nach Hause gehen. Aber leider war das ihr Abschlussjahr, und die Direktorin behielt sie oft noch etwas länger da, was sie heute gar nicht gebrauchen konnte. Zum
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