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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt
Autoren: Ewald Arenz
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einen hatte sie nur anderthalb Stunden geschlafen, zum anderen sollte sie um halb zwei schon wieder im Kolonialwarengeschäft sein, wo sie im Lager aushalf, um sich etwas dazuzuverdienen. Leinen, Sperrholz, Leim, Drahtseile – das bezahlte sich nicht von allein. Obwohl Georg viel Material in der Werkstatt hatte und fast alle Metallteile entweder aus seinen Regalen kramte oder manchmal auch selbst schmiedete, blieb doch noch sehr viel, was einfach gekauft werden musste. Luise hatte schon längst alle ihre mageren Ersparnisse aufgebraucht und war nun immer auf der Suche nach Geldquellen, denn der Bau ihres Flugzeugs zog sich eben auch deshalb so lange hin, weil es ihnen oft an Teilen fehlte.
    Filmstar müsste man sein, dachte Luise, als sie müde aus dem Fenster des Klassenzimmers ins Freie sah. Dann wäre ich reich und könnte mir ein Flugzeug kaufen.
    Zum Glück hatte sie ihre Bank auf dieser Seite des Raumes. So konnte man wenigstens mit den Augen ab und zu dem Grau des Schulalltags entfliehen. Auf der anderen Seite des Platzes, an dem die höhere Mädchenschule lag, stand das einzige Kino des Städtchens. Eine schöne junge Frau lächelte von dem Plakat zu ihr herüber. Die keusche Susanne hieß der Film. Sie versuchte, den Namen der Schauspielerin zu entziffern, aber es gelang ihr nicht, die Lettern waren zu klein.
    Im Klassenzimmer wurde es trotz der geöffneten Fenster allmählich heiß, weil sie nach Südwesten gingen. Vom Marktplatz, der gleich neben dem Schulhof lag, kam gedämpft der Lärm des Wochenmarktes. Hufschlag. Rufen. Das Geknatter eines Motorrads. Luise wäre jetzt tausendmal lieber draußen gewesen. Bei solchem Wetter war es in der Schule wirklich schwer auszuhalten, obwohl es doch nur noch sechs Wochen waren. Mit einem unangenehmen Gefühl dachte sie daran, dass sie Papa immer noch nicht gesagt hatte, dass sie nicht nach München aufs Kolleg gehen würde. Von draußen wehte ab und zu eine Brise herein und brachte den Geruch von Weizen mit sich, der weit vor der Stadt auf den Feldern stand und wohl zu stäuben begann. Hier roch es nach Linoleum und Kreide, nach dem Holz ihres Pultes, auf das die Sonne schien, und nach Tinte. Eine Biene flog herein und summte durch den Raum. Alle achtzehn Schülerinnen der Abschlussklasse sahen ihr zu, wie sie im Zickzack durch das Klassenzimmer flog. Luise wurden die Augen schwer.
    »Vielleicht kann uns ja Fräulein Anding erklären, was die Eigenschaften einer logarithmischen Spirale sind.«
    Hoppla! Beinahe wäre sie eingeschlafen. Dr. Mandl sah sie spöttisch an.
    »Langweile ich Sie?«, fragte er maliziös.
    »Nein, nein«, sagte Luise hastig, »die Eigenschaften einer logarithmischen Spirale … also zunächst einmal umkreist sie ihren Ursprung unendlich oft, ohne ihn zu erreichen.«
    Dr. Mandl nickte fast unmerklich. Luise atmete auf und fuhr sicherer fort. In Mathematik machte ihr niemand etwas vor. In Mathematik war sie die Klassenbeste. »Alle Geraden, die durch diesen Pol gehen, schneiden ihre Tangenten stets im gleichen Winkel«, führte sie aus, »und …«
    Dr. Mandl winkte ab. »Ja, ja. Richtig. Und wozu braucht man so eine logarithmische Spirale? Was meinen Sie?«
    Er sah sich im Klassenzimmer um. Die meisten anderen Mädchen wichen seinem Blick aus. Nur Elisabeth sah nicht weg, aber nicht, weil sie so gut rechnen konnte. Sie sah nicht so aus wie Luise, ein mageres Mädchen, sondern war schon ganz und gar eine Frau. »Luder« nannten die anderen sie manchmal halb abfällig, halb respektvoll hinter ihrem Rücken. Sie machte Dr. Mandl nervös, und das wusste sie genau. Luise lächelte in sich hinein. Der arme Dr. Mandl. Er hatte trotz der Sommerwärme sein Jackett nicht abgelegt und schwitzte nicht nur wegen der Hitze. Er nahm Elisabeth nicht einmal dann dran, wenn sie sich meldete. Luise überlegte, dann fiel ihr wieder ein, wo sie etwas über die Spiralen gelesen hatte, doch sie wartete, bis Dr. Mandl wieder sie aufrief.
    »Na, Fräulein Anding?«
    »Eine logarithmische Spirale beschreibt zum Beispiel die Anordnung von Kernen in einer Sonnenblume«, erklärte Luise selbstbewusst. Das war das Beispiel, das Dr. Mandl am Donnerstag nebenbei erwähnt hatte. »Oder auch die Wirbel in Luftströmungen«, fügte sie dann fast verlegen hinzu.
    Dr. Mandl war erstaunt. »Woher wissen Sie das?«, fragte er.
    Die Klasse sah zu ihr herüber. Luise war keine Musterschülerin. In Französisch mogelte sie sich nur so durch. Und so sehr oft meldete sie sich auch
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