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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt
Autoren: Ewald Arenz
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konnte, was man suchte. Dass es in der Ferne vielleicht gar nichts gab. Wenn ich weggehe, nahm sie sich vor, komme ich nicht zurück, ohne gefunden zu haben, wonach ich suche. Sie holte tief Luft.
    »Papa«, sagte sie dann, »kann ich kurz mit dir sprechen?«
    »Jaja«, antwortete ihr Vater ein wenig abwesend. Er hatte seinen Teller zurückgeschoben und nach der Post gegriffen, die auf dem Stuhl neben ihm lag. Zerstreut sah er sich nach einem Brieföffner um, dann nahm er einfach sein benutztes Messer. An einem anderen Tag hätte Luise dazu etwas gesagt, aber sie wollte sich jetzt nicht seinen Unmut zuziehen. Manchmal konnte er recht unwirsch reagieren, obwohl er sonst in vielen Dingen sehr verständnisvoll war. Er sah nicht auf, sondern nahm den Brief heraus, dessen Umschlag er eben aufgeschlitzt hatte.
    »Ich will nicht nach München gehen«, platzte Luise heraus und ärgerte sich im selben Augenblick, dass sie so undiplomatisch begonnen hatte.
    »Was?«, fragte ihr Vater, der nicht gleich verstand. Immerhin legte er jetzt den Brief auf den Tisch.
    »Ich … ich will nicht nach München. Ich will nicht aufs Kolleg«, sagte Luise fest.
    Ihr Vater schwieg einen Augenblick.
    »Woher kommt das so plötzlich?«, wollte er wissen.
    Luise hatte die Gabel genommen und malte damit unsichtbare Figuren auf ihrem leeren Teller.
    »Es ist nicht plötzlich«, antwortete sie, »ich hatte schon lange vor, nach diesem Jahr aufzuhören. Ich will arbeiten. Und ich …«, sie stockte. Sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte, ohne dass es dumm und unreif und wie ein typischer Kleinmädchentraum klang.
    »Ja?«, hakte ihr Vater nach. Luana stand auf und räumte die Teller zusammen. Paul schwieg.
    »Ich will fliegen«, sagte Luise hastig, »ich will Fliegerin werden.«
    Wunderbar. Es klang dumm und unreif und wie ein Kleinmädchentraum.
    Ihr Vater setzte zu einer raschen Erwiderung an, aber dann besann er sich und überlegte kurz, bevor er antwortete.
    »Luise«, begann er in diesem vernünftigen Ton, den sie nicht leiden konnte, weil er bedeutete, dass einem all das vor Augen geführt wurde, was man selber wusste, aber nicht wissen wollte. »Luise, das kannst du dann immer noch. Ich will ja nur, dass du dir alle Optionen offen hältst. Wenn du jetzt eine Lehre beginnst – wie viel Zeit wird dir bleiben, um das Fliegen zu lernen?«
    Er sah sie offen, Verständnis heischend, an. Er war klug genug zu wissen, dass ein Streit nicht helfen würde.
    Papa versteht das nicht, dachte Luise. Sie wusste nicht, wie sie ausdrücken sollte, dass es nicht darum ging. Er hatte ja in allem recht. Das war es nicht. Es war doch so, dass man mit so einer Sehnsucht nie recht haben konnte. Dass das Sehnen unlogisch war und vielleicht so etwas wie ein Gebet. Sie wusste nicht, wie sie ihm sagen sollte, dass es um eine große Freiheit ging, die gar nicht diese unwichtigen kleinen Pflichten im Alltag berührte, die sie ja alle erfüllen wollte. Das machte ihr gar nichts aus. Sie wusste nicht, wie sie erklären sollte, dass sie keinen vernünftigen Weg über drei weitere Jahre Studium in München nehmen konnte, weil dafür keine Zeit mehr war. Sie wusste nicht, wie sie ihm ihre Sicherheit mitteilen sollte; diese Sicherheit, dass es hier nicht um ein Steckenpferd oder eine Schwärmerei ging, sondern um ihre Bestimmung. Dass sie ganz tief innen wusste, dass sie zum Fliegen bestimmt war.
    Paul hatte sich noch ein Stück Brot genommen, brach es in Stücke und aß bedächtig. Ihr Vater sah sie nachdenklich an. Dann sagte er kurz: »Deine Mutter wollte, dass du studierst.«
    Das hatte Luise befürchtet. Es gab nichts, was sie dem entgegenzusetzen hatte. Natürlich hätte sie gewollt, dass ihre Tochter studierte. Sie war ja selber eine der ersten Kinderärztinnen gewesen. Wie konnte sie dagegen schon ankommen? Die Toten hatten ja immer recht!
    »Na und? Sie hat ja nicht wissen können, wie ich werde!«, sagte Luise in plötzlichem Zorn.
    »Luise!«, warnte Paul mit leiser Stimme.
    Ihr Vater beherrschte sich, aber man sah an der Röte, die ihm in das schmale, asketische Gesicht stieg, wie erregt er war.
    »Luise, du kannst nicht einfach sechs Wochen vor den Prüfungen kommen und sagen, du wirst danach nicht weiterlernen. Du weißt schlicht nicht, was es bedeutet, diese Möglichkeit hinzuwerfen. Deine Mutter hat jahrelang dafür gekämpft, studieren zu dürfen. Jahrelang! Und du willst diese Möglichkeit einfach wegwerfen. Fürs Fliegen!«
    Er hob die Arme in einer
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