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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt
Autoren: Ewald Arenz
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waren. Georg stützte sich neben ihr auf und sah hinunter zum See, sagte aber nichts weiter. Als sie den Kopf hob, um noch einmal nach dem Falken zu sehen, folgte er ihrem Blick. Ein paar Sekunden beobachteten sie beide, wie der Vogel so ruhig seine Kreise zog, als ob es da oben nicht ebenso wehen würde wie hier unten.
    »An solchen Tagen möchte man seine Arme ausbreiten und losfliegen«, sagte Georg auf einmal unvermittelt. Luise warf ihm einen überraschten Blick zu, dann wandte sie den Kopf unsicher wieder ab. Sie war sich nicht ganz im Klaren darüber, warum er das ausgerechnet ihr sagte. Aber dann sah sie aus den Augenwinkeln, wie er rot wurde. Er hatte es ernst gemeint.
    »Ja«, meinte sie zurückhaltend, »das wäre schon schön.«
    »Ich werde später Flieger«, erklärte Georg nach einer Weile, in der sie beide weiter dem Falken nachgesehen hatten, den seine Kreise allmählich immer weiter nach Osten trugen.
    Luise drehte sich zu ihm um. Der Wind wehte ihr von hinten die Locken ins Gesicht, und sie wischte sie mit einer unwilligen Handbewegung fort.
    »Gehst du nicht bei deinem Vater in die Lehre?«, fragte sie.
    Georg nickte.
    »Schon«, sagte er dann, »aber wenn ich Geselle bin, dann mache ich noch eine Lehre als Flugzeugmechaniker. Ich bin gut mit Motoren. Ich kann alles reparieren.«
    Er wirkte sehr eifrig und auf einmal viel jünger als sonst. Luise kam sich in diesem Moment stärker und klüger vor als er.
    »Wir haben keinen Flugplatz in der Nähe«, sagte sie altklug, »und außerdem: Mechaniker fliegen nicht. Die reparieren immer nur.«
    Georgs Gesicht verdunkelte sich. Luise, die das auch gesagt hatte, weil sie aus irgendeinem Grund, der ihr selbst nicht ganz klar war, ihren Traum vom Fliegen nicht teilen wollte, spürte, dass sie ihn verletzt hatte, und es tat ihr leid.
    »Vielleicht kannst du trotzdem Pilot werden«, sagte sie, »die müssen ja auch reparieren können.«
    Sie hatte das ins Blaue hinein gesagt, ohne Überzeugung. Sie las alles, was übers Fliegen ging, alle Reiseberichte und Zeitungsmeldungen, alle Bücher, die sie bekommen konnte, und sie wusste es eigentlich besser. Es war ja nicht mehr wie vor dem Krieg, als die Flieger noch alles selber tun mussten.
    »Nein«, sagte Georg jetzt und wandte sich zum Gehen, »du hast recht. Schmiede werden keine Piloten. Ich gehe mal noch ein bisschen Holz fürs Feuer sammeln.«
    Luise hätte ihn gerne zurückgehalten, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und so ließ er sie stehen und ging, um den anderen beim Feuermachen zu helfen. Sie sah ihm nach und schämte sich. Es war dasselbe Gefühl, das sie gehabt hatte, als sie einmal einen Groschen aus der Milchkasse in der Küche gestohlen und sich dafür bei Langmayer eine Tüte Bonbons geholt hatte. Es war nie herausgekommen, aber sie konnte sich noch genau erinnern, dass sie sich … falsch gefühlt hatte. Sie wusste kein anderes Wort dafür. Sie sah nach dem Falken. Er war verschwunden. Der Himmel war blau und leer. Auf einmal brannte ihr Gesicht vor Scham, und sie beeilte sich, Wasser zu holen.

    Am Abend hatte der Wind nachgelassen, und alle saßen ums Feuer herum, holten vorsichtig Kartoffeln aus der Glut, die sie auf ihrer Wanderung über die Felder aufgelesen hatten, bliesen auf ihre Hände, wenn sie die schwarz gebrannte Schale abbröselten, und sangen. Manchmal, wenn ein Ast durchgebrannt war und auseinanderbrach, stoben die Funken in die Nachtluft, und Luise sah ihnen zu, während sie mitsang, und dachte, dass die einfach so fliegen konnten, dass es war, als würden sie vom Himmel angezogen und nicht, wie sie, von der Erde. Scheu sah sie zu Georg hinüber, der auf der anderen Seite des Feuers saß, lachend Gitarre spielte und hoffentlich vergessen hatte, dass sie gemein gewesen war. In dem Dorf auf der anderen Seite des Tales, das auf halber Höhe des Hanges lag, gingen allmählich, Haus um Haus, die Lichter aus. Die Nacht war mondlos und dunkel. Hier oben, wo das Gras karg und trocken wie auf einer Heide war und die Kalksteine des Berges durchbrachen, zirpten die Grillen überall und waren lauter als das Feuer, nachdem der Gesang allmählich aufgehört hatte. Sie sahen schweigend in die Glut, wie es wohl alle Menschen tun, seit es Lagerfeuer gibt.
    Sebastian, ihr Anführer, stand auf und dehnte sich. »Ab in die Falle«, befahl er halblaut und goss das Spülwasser auf das Feuer. Es zischte, und weißer Qualm stieg auf. Luise hatte ein eigenes kleines Zelt, das sie etwas
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