Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt
Autoren: Ewald Arenz
Vom Netzwerk:
wollte, um neun Uhr auf ihrem Zimmer sein. Also hatte sie sich halb ausgezogen, ins Bett gelegt und hoffte nun, dass sie nicht einschlief, bis sie aus dem Fenster steigen konnte. Ihr Raum lag im ersten Stock, aber nach hinten zu den Wirtschaftsgebäuden, und an die Hausmauer lehnte sich der etwas heruntergekommene Hühnerstall, dessen Dach zwar dünn war, aber das Gewicht eines mageren Mädchens, das sich leise von seinem Fensterbrett herabließ, durchaus tragen konnte. Schon seit jeher war das ihr Fluchtweg gewesen, wenn ihr Bruder oder – was viel seltener vorkam – ihr Vater sie eingesperrt hatte, nachdem sie wieder etwas getan hatte, wofür Töchter anderer Väter geschlagen wurden, und er sich anders nicht mehr zu helfen wusste.
    Luise lag in ihrem Bett und lauschte in die Nacht. Es gab kein anderes Wort für dieses nächtliche Hören. Man musste sich nicht anstrengen. Da waren ein paar Grillen, wenn auch längst noch nicht so viele wie im August. Da war das ganz leichte Rauschen des Nachtwinds in der Krone des Nussbaums. Das weit entfernt klingende Stoßen eines durchfahrenden Eilzuges. Und in ihrem Kopf: ein Echo von Luanas Stimme. Dass es Dinge gab, die so schön und so traurig zugleich sein konnten! Vielleicht bedeutet das Sehnsucht, dachte Luise, das Glück zu wissen, dass irgendwo dort draußen die Vollendung liegt, das große Wunderbare; und die Trauer, dass man doch den Weg dorthin nicht findet.
    Es wurde allmählich still im Haus. Paul und Luana hatten noch mit Papa auf der Terrasse bei einer Flasche Wein ­gesessen. Das Murmeln ihrer Unterhaltung war manchmal um die Ecke gedrungen und hätte sie beinahe eingeschläfert. Aber jetzt hörte sie die beiden auf der Treppe. Die Tür des Badezimmers. Wasserrauschen. Das Quietschen des Hahns beim Zudrehen. Wieder die Tür des Badezimmers. Weiter weg die Tür des Schlafzimmers, das früher das Bubenzimmer gewesen war. Luise lag und lauschte. Papa war noch auf, aber dann hörte sie den leisen Pfiff, mit dem er den General rief, und gleich darauf das Klicken seiner Krallen auf dem Steinboden des unteren Flurs. Sie lachte leise in ihre Decke, als sie den durchaus lebendigen Hund vernahm. Schließlich, endlich, das vertraute leise Klirren der Scheiben in der Terrassentür und das Schleifen der Läden. Papa würde zwar noch auf sein, aber sein Arbeitszimmer lag im Erdgeschoss und zur Straße hin. Sicherheitshalber wartete sie trotzdem noch und zwang sich, auf dem Wecker die vollen fünf Minuten verstreichen zu lassen, bevor sie fast geräuschlos aus dem Bett stieg, in die weiten Wanderhosen und die Segeltuchschuhe schlüpfte, die Beine vorsichtig übers Fensterbrett hob und sich leise auf das Dach des Hühnerstalls hinabließ.

    Die Glockengasse lag verlassen da. Sie verlief unter der Gartenmauer und bog dann in die Torgasse ein, die auf der Innenseite der Stadtmauer entlangführte. Die Schatten der Häuser, der Bäume und der längst erloschenen Straßenlaternen auf dem Katzenkopfpflaster waren scharf und klar. Es war fast Vollmond und die Nacht hell. So lautlos zu laufen gab ihr ein Gefühl der Leichtigkeit. Die Schläfrigkeit von vorhin war verflogen. Vom Marktplatz hörte man das Lachen und ab und zu unverständliche Rufe der Handwerksgesellen und der Primaner, die noch am Schweppermannbrunnen herumstanden, nachdem sie aus den Wirtshäusern geworfen worden waren. Vom Kirchturm schlug es elf Uhr, kurz darauf gefolgt von der Glocke des Rathausturmes. Luise lief am Schulgarten des Gymnasiums vorbei, roch das Gras, das der Pedell am Tag zuvor gemäht hatte, lief über die Brücke, lief hinter dem Bahnhof über die zwei Geleise und war in der Vorstadt, wo die vier, fünf kleinen Fabriken der Stadt lagen und all die Werkstätten, die in den Mauern der Stadt keinen Platz hatten. Luise fiel in Schritt. Sie war ein bisschen außer Atem, aber das kam nicht nur vom Laufen. Immer hatte sie ein wenig Herzklopfen, wenn sie sich trafen. Als ob ich einen Liebsten hätte, dachte sie spöttisch über sich selbst.
    Hier in der Vorstadt war es nicht ganz so still. Die Maschinen der Weberei liefen die ganze Nacht durch. Luise mochte das Geräusch. Es war so ein gleichmäßiges Arbeiten, das sich nach Stärke anhörte und nach Zuverlässigkeit. Vielleicht mochte sie es aber auch deshalb, weil es sich mit ihren nächtlichen Ausflügen verband. Seit fast einem halben Jahr kam sie jetzt mindestens einmal, manchmal auch zweimal in der Woche hierher. Hier waren die Straßen dunkler,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher