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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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verlieren.« Sie schaut mich an. »Und das habe ich dann auch gemacht. Und ich habe mich schrecklich dabei gefühlt. Ich bin für etwas bestraft worden, das nicht mein Fehler war, es war ein Unfall, verdammt. Deshalb bin ich depressiv geworden. Erst als ich mich fast umgebracht hätte, wurde mir klar, dass ich nicht länger in der Vergangenheit leben durfte. Ich konnte ohnehin nichts mehr ändern. Ich konnte nicht ändern, was diese Mädchen gesagt hatten, und ich konnte auch nicht den Rest meines Lebens Angst davor haben, dass die Ereignisse mich irgendwann wieder einholen würden.« Sie steckt mir das Haar hinters Ohr. »Lass dir von ihnen nicht deine Karriere zerstören. Wenn das heißt, dass du kämpfen willst, dann kämpfe. Aber wenn es bedeutet, dass du diese Embryonen gegen Wade Prestons Schweigen tauschen musst … dann sollst du wissen, dass ich das verstehe.« Sie lächelt. »Du und ich, wir beide sind schon eine Familie. Egal ob mit oder ohne Kinder.«
    Ich schaue den Leuchtturm hinauf. Da ist eine Plakette, auf der steht, dass er ursprünglich im Jahre 1810 gebaut worden ist. Dann, nach einem Sturm im Jahre 1815, hat man ihn wieder aufgebaut, größer und stärker und diesmal aus Stein. Doch trotz des Leuchtturms sind hier immer wieder Schiffe auf Grund gelaufen.
    Sicherheit ist relativ. Man kann so nah am Ufer sein, dass man es schon unter den Füßen spüren kann, und dann zerschellt man plötzlich an den Felsen.
    Nachdem ich mein Baby in der achtundzwanzigsten Woche verloren hatte und in ein Heim ohne Musik zurückgekehrt bin, habe ich einen Anruf bekommen.
    Ist da Mrs. Baxter? , fragte eine Frau.
    Ich wusste kaum noch, wer ich war, aber ich habe Ja gesagt.
    Hier ist Daniel. Ihr Sohn wartet auf Sie.
    Beim ersten Mal hielt ich das für einen grausamen Scherz. Ich schleuderte den Hörer durch den Raum, und als das Telefon sofort wieder klingelte, riss ich das Kabel aus der Wand. Max fand alles so vor, als er von der Arbeit nach Hause kam, und ich zuckte nur mit den Schultern. Ich sagte ihm, ich wisse nicht, wie das passiert sei.
    Am nächsten Tag erhielt ich erneut einen Anruf.
    Mrs. Baxter, bitte, Daniel wartet auf Sie.
    War es wirklich so einfach? Konnte ich einfach so in ein Paralleluniversum übertreten, dort meinen Sohn finden und weitermachen, als wäre nichts geschehen? Ich fragte nach einer Adresse, und an diesem Nachmittag zog ich mich zum ersten Mal wieder an, seit ich nach Hause gekommen war. Ich nahm meine Schlüssel und meine Handtasche und fuhr los.
    Ich staunte über die weißen Säulen und die große Treppe, die zu dem Gebäude hinaufführte. Ich stellte den Wagen in der großzügigen Einfahrt ab und ging langsam hinein.
    »Sie müssen Mrs. Baxter sein«, sagte die Frau am Empfang.
    »Daniel«, sagte ich. Der Name meines Sohnes schmeckte glatt und süß auf meiner Zunge. Ein Lebensretter. »Ich bin wegen Daniel hier.«
    Die Frau verschwand im Hinterzimmer und kehrte kurz darauf mit einem kleinen Pappkarton wieder zurück. »Hier ist er«, sagte sie. »Mein Beileid zu Ihrem Verlust.«
    Der Karton war nicht größer als eine Uhrschatulle, und ich konnte einfach nicht danach greifen. Ich hatte Angst, in Ohnmacht zu fallen, wenn ich ihn berührte.
    Doch dann hielt die Frau mir den Karton hin, und ich sah, wie meine Hände sich um ihn schlossen. Dann hörte ich meine Stimme sagen Danke , als hätte ich mir das die ganze Zeit gewünscht.
    Ich war seit Jahren nicht mehr in Reids und Liddys Haus. Im Vorgarten herrscht ein Übermaß an Farbe – größtenteils Rosen, Max’ Werk. Auf dem Rasen steht eine neue weiße Gartenlaube, an die sich eine Sonnenwende anlehnt. Max’ zerbeulter Truck parkt hinter einem goldenen Lexus.
    Als ich an der Tür klingele, macht Liddy auf. Sie starrt mich an, ist sprachlos.
    Sie hat inzwischen winzige Falten um Augen und Mund. Sie sieht müde aus.
    Ich will sie fragen: Und? Bist du jetzt glücklich?
    Weißt du eigentlich, was du da machst?
    Doch stattdessen sage ich nur: »Kann ich mal kurz mit Max sprechen?«
    Sie nickt, und einen Augenblick später ist er da. Er trägt dasselbe Hemd, das er auch im Gericht getragen hat, nur ohne Krawatte. Aber die Anzughose hat er gegen eine Jeans getauscht.
    Das macht es einfacher. So kann ich wenigstens so tun, als würde ich mit dem alten Max sprechen.
    »Willst du nicht reinkommen?«, fragt er.
    Im hinteren Teil des Foyers sehe ich Reid und Liddy. Das Letzte, was ich will, ist dieses Haus zu betreten. »Vielleicht
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