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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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kann aber nur sich bewegende graue und schwarze Körner erkennen. »Was sehen Sie?«
    »Zoe, ich möchte, dass Sie sich mal kurz entspannen«, sagt Dr. Gelman.
    Also beiße ich mir auf die Lippe. Das Blut pocht in meinen Ohren. Eine Minute vergeht und dann noch eine. Bis auf das Piepen der Maschine ist es in dem Raum vollkommen still.
    Und dann spricht Dr. Gelman aus, was ich schon die ganze Zeit über gewusst habe: »Ich sehe keinen Herzschlag, Zoe.« Sie schaut mir in die Augen. »Ich fürchte, Ihr Baby ist tot.«
    Ein Geräusch zerreißt die Stille, ich muss Max’ Hand loslassen, damit ich mir die Ohren zuhalten kann. Es klingt wie eine vorbeifliegende Kugel, wie Nägel auf einer Schiefertafel, wie gebrochene Versprechen. Es ist ein Ton, wie ich ihn noch nie gehört habe, ein Ton geboren aus purem Schmerz, und es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass er aus meiner Kehle kommt.
    Folgendes habe ich für die Entbindung in eine Tasche gepackt:
    Ein Nachthemd mit winzigen blauen Blumen darauf. Dabei trage ich schon seit meinem zwölften Lebensjahr keine Nachthemden mehr.
    Drei Sets Schwangerschaftsunterwäsche.
    Kleider zum Wechseln.
    Eine kleine Geschenkpackung Körperlotion mit Kakaobutter und eine spezielle Seife für junge Mütter, die mir die Mutter eines vor Kurzem entlassenen Brandopfers geschenkt hat.
    Ein unglaublich weiches Plüschschwein, das Max und ich während meiner ersten Schwangerschaft vor Jahren gekauft haben, vor der Fehlgeburt, als wir noch zur Hoffnung fähig waren.
    Und meinen iPod, vollgepackt mit Musik. So viel Musik. Als ich in Berklee mein Grundstudium in Musiktherapie absolvierte, arbeitete ich mit einem Professor zusammen, der als Erster die Wirkung von Musiktherapie während einer Entbindung untersucht hat. Zwar gab es schon vorher Studien, die den Einfluss von Musik auf die Atmung und damit auf das autonome Nervensystem festgestellt hatten, aber es hatte noch keine Studie gegeben, die die unterstützende Wirkung von selbst gewählter Musik für die Lamaze-Atemtechnik betrachtet hatte. Die Ausgangsthese lautete: Frauen, die sich unterschiedliche Musik während unterschiedlicher Phasen der Entbindung anhören, können mithilfe dieser Musik richtig atmen. Sie bleiben entspannt und reduzieren so die von den Wehen herrührenden Schmerzen.
    Mit neunzehn Jahren fand ich es schier unglaublich faszinierend, mit jemandem zusammenzuarbeiten, dessen Forschungsergebnisse die Grundlage für eine inzwischen weit verbreitete Praxis bei Entbindungen ist. Damals war ich mir nicht im Klaren darüber gewesen, dass es noch einundzwanzig Jahre dauern würde, bis ich diese Theorie selbst in die Praxis würde umsetzen können.
    Weil Musik so wichtig für mich ist, hatte ich mir die Stücke mit großer Sorgfalt ausgesucht. Zu Anfang wollte ich bei Brahms entspannen, und für die Zeit, in der die Wehen stärker werden würden und ich mich auf meine Atmung konzentrieren musste, hatte ich temporeiche Musik mit ausgeprägtem Rhythmus gewählt: Beethovens Mondscheinsonate. Und gegen Ende, wenn die Schmerzen am stärksten waren, wollte ich unterschiedliche Stücke hören, allesamt Werke, mit denen ich glückliche Erinnerungen aus meiner Kindheit verband, von REO Speedwagon und Madonna bis hin zu Wagners Walkürenritt, dessen wütender Takt das widerspiegelte, was zu diesem Zeitpunkt in meinem Körper vor sich gehen würde.
    Ich glaube von ganzem Herzen daran, dass Musik den körperlichen Schmerz während der Geburt lindern kann.
    Ich weiß nur nicht, ob das auch bei Trauer funktioniert.
    Noch während ich das Kind auf die Welt bringe, denke ich, dass ich mich eines Tages nicht mehr daran erinnern werde. Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, dass ich Dr. Gelman über submuköse Fasern reden höre, die sie vor der Furchtbarkeitsbehandlung hatte entfernen wollen – eine Operation, die ich abgelehnt habe, weil ich möglichst schnell schwanger werden wollte –, Fasern, die riesig geworden sind. Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie sie mir erklärt, dass die Plazenta sich wegen dieser Fasern von der Gebärmutter losgerissen hat. Ich werde nicht mehr spüren, wie sie mich untersucht und sagt, dass mein Muttermund sich schon sechs Zentimeter geöffnet hat. Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie Max meinen iPod in die Dockingstation steckt und Beethoven den Raum erfüllt. Ich werde nicht mehr sehen, wie die Krankenschwestern sich wie in Zeitlupe bewegen, so vollkommen anders als die fröhlich
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