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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt
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Deutschland, waren schon um das Jahr 1800 herum gebildet. Aber wirklich frei waren sie nicht.
    LEE Über das Europa des 19. Jahrhunderts weiß ich nicht viel, aber ich kenne China und Singapur. Wenn Frauen eine Bildung erhalten und ihren Lebensunterhalt verdienen und ein höheres Einkommen als Männer beziehen können, weil sie klüger sind, dann hat man die sozialen Koordinaten verändert.
    SCHMIDT Die Befreiung der Frauen in China wäre also sowieso gekommen? Und Mao hätte nicht viel damit zu tun?
    LEE Nein. Er lebte wie ein Kaiser mit vielen jungen Mädchen um sich herum.
    SCHMIDT Oh, ja!
    LEE Das ist keine Befreiung der Frauen.
    SCHMIDT Als ich Mao besuchte, waren drei Mädchen bei ihm ( LEE lacht). Sie waren damals als sogenannte Dolmetscherinnen notwendig. Sie mussten sich erst untereinander verständigen, um klarzustellen, wie sie seine Worte wiedergeben sollten.
    LEE Eine hörte ihm zu …
    SCHMIDT Das war wohl seine Nichte …
    LEE Ja, weil er einen merkwürdigen Hunan-Akzent hatte, den sie für die Dolmetscherinnen ins Hochchinesische übersetzte.
    SCHMIDT Außerdem hatte Mao eine undeutliche Aussprache. Das wurde bei jedem zweiten Satz zum Problem.
    LEE Ja, und die Dolmetscherinnen machten Notizen. Sie schrieben seine Worte auf, um sie ihm zu zeigen …
    SCHMIDT Genau. Die Mädchen zeigten ihm ihre Notizen und fragten ihn: »Haben Sie es so gesagt?« Dann nahm er einen Stift und fügte irgendetwas hinzu, und sie waren zufrieden. Und dann ging das Gespräch weiter.
    LEE Worüber sprach er mit Ihnen?
    SCHMIDT Er sprach über einen Krieg zwischen der Sowjetunion und China. Er begrüßte mich mit den Worten »Sie sind Kantianer«, was übrigens nicht ganz richtig ist, »und ich bin Marxist«, was noch weniger richtig war. Und dann begann er über die Russen herzuziehen. Er wusste alles über die Zahl ihrer Divisionen, Kanonen und Panzer, und wie viele Raketen sie hatten, um die chinesischen Städte zu zerstören. Aber China hätte viel mehr Menschen; deshalb würden sie die Russen nach China hereinkommen lassen und sie dann im Meer der chinesischen Massen ertränken. Er war recht zuversichtlich, was den Ausgang eines Krieges zwischen China und Russland anging.
    LEE Das war das, was Mao Ihnen gesagt hat. Als ehemaliger Guerillakämpfer muss er aber gewusst haben, dass eine große Armee wie die russische ins Land zu lassen, etwas völlig anderes bedeutet hätte, als gegen die Kuomintang zu kämpfen. Es war alles Prahlerei, das versichere ich Ihnen. Er muss vor den Russen Angst gehabt haben. Deshalb wurde ja Nixon, als er nach China reiste, von Mao und Zhou Enlai willkommen geheißen. Sie erinnern sich, dass Nixon Henry Kissinger geschickt hatte, um den Boden zu bereiten. – Henry lässt Sie übrigens herzlich grüßen.
    SCHMIDT Danke.
    LEE Wir sprechen alle zwei Monate eine Stunde lang am Telefon miteinander.
    SCHMIDT Da haben Sie ein Privileg, denn ich kann mich nicht am Telefon unterhalten. Ich verstehe den anderen akustisch nicht. Telefonieren Sie auch mit George Shultz?
    LEE Selten. Wir korrespondieren.
    SCHMIDT Nächste Woche bekommt er in Berlin einen Preis, der Preis trägt den Namen von Henry Kissinger. Dann werden wir drei wieder zusammen sein, nur Sie werden fehlen.
    LEE Übermitteln Sie ihnen meine besten Wünsche!
    SCHMIDT Das werde ich gern tun. – Um aufs Thema zurückzukommen: Mao schien die Sowjetunion für den nächsten potentiellen Gegner zu halten, nicht die Amerikaner.
    LEE Weil die Amerikaner keinen Anspruch auf chinesisches Territorium erhoben.
    SCHMIDT Ja, das war einer der Gründe.
    LEE Aber die Sowjetunion eignete sich große Gebiete am Amur an, die früher zu China gehört hatten und deren Zugehörigkeit zu Russland es anerkennen musste.
    SCHMIDT Schließt das Wladiwostok ein?
    LEE Nein. Es sind Gebiete weiter im Inland.
    SCHMIDT Aber die territorialen Streitigkeiten waren nicht der eigentliche Grund für Maos Feindschaft.
    LEE Schon seit seiner ersten Reise nach Moskau betrachtete er die Russen als Feinde.
    SCHMIDT Richtig.
    LEE Weil sie ihn wie einen Bittsteller behandelten und nicht als Gleichen.
    SCHMIDT Sie behandelten ihn, wie Mahathir mich behandelte.
    (Beide lachen.)
    LEE Nach dem Besuch bei Stalin 1949 stand Maos Meinung über Russland fest. Es war seine erste Reise ins Ausland. Er war Bibliothekar an der Universität Peking gewesen und hatte Bücher über die Welt gelesen. Russland war das einzige Land, das er überhaupt je besuchte, und er gewann den starken Eindruck, dass
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