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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt
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es eine imperialistische Macht war.
    SCHMIDT Richtig. Und seine zweite Reise führte ihn wieder nach Moskau.
    LEE Aber dann herrschte bereits Chruschtschow.
    SCHMIDT Das bringt mich zu einer allgemeinen Bemerkung. Solche Reisen sind sehr aufwendig und unterliegen vielfachen Einschränkungen. Andererseits ist es die Art, wie wir die Welt kennengelernt haben.
    LEE (lacht) Nicht wirklich, nein.
    SCHMIDT Sie haben die Welt während Ihres Studiums in Cambridge auf andere Weise kennengelernt.
    LEE Ja, aber ich bin immer viel gereist, bin durch die Straßen spaziert, habe Leute kennengelernt. In den Ferien bin ich oft nach Frankreich gefahren, auf wunderbare Weingüter, die Unternehmern in Paris gehörten, die dort ihre Wochenenden verbrachten. Eine wunderschöne Landschaft. Das letzte Mal war ich vor zehn oder 15 Jahren da, es bietet für mich eine überaus angenehme Urlaubsatmosphäre.
    SCHMIDT Es ist mehr als dreißig Jahre her, dass wir uns kennengelernt haben. Erinnern Sie sich daran?
    LEE (Pause) Nein.
    SCHMIDT Ich kann mich auch kaum noch daran erinnern. Aber ich weiß, dass wir beide im Amt waren und dass ich auf einer offiziellen Reise, wahrscheinlich auf der Rückreise von Japan, durch Singapur kam. Sie haben mir Ihren wundervollen botanischen Garten gezeigt, Loki war dabei, und sie war ganz begeistert. An sehr viel mehr kann ich mich nicht erinnern. Es ist furchtbar, die Erinnerung schwindet.
    LEE Nein! Sie ist durch neue Bilder, Erinnerungen, Ereignisse überlagert worden. Es ist so wie bei einer Fotomontage. Und man muss die Erinnerung durchforsten.
    SCHMIDT Sicher war es ein Besuch vom Flughafen zum Gästehaus, vom Gästehaus zum Tagungsort, dann zurück zum Gästehaus und wieder zum Flughafen – eine Fotomontage aus vielen, vielen Fotos.
    LEE Sehr richtig. Und wenn man alle Fotos von Ereignissen, an denen man teilgenommen hat, nebeneinander legt, können sie die Erinnerung auffrischen. Ah ja, sagt man dann, ich erinnere mich an diese Person. Und wenn man das Foto beschriftet hat …
    SCHMIDT Wir haben Sie letztes Jahr vermisst, als George Shultz, Henry Kissinger und ich uns in den Vereinigten Staaten getroffen haben. Wir haben Sie sehr vermisst. Da Sie sagten, Sie könnten nicht kommen, haben wir versucht, unsere Erinnerungen zusammenzufügen.
    LEE Es wäre eine zu lange Reise gewesen, und ich hatte eine schwere Zeit.
    SCHMIDT Choo war gerade gestorben?
    LEE Ja.
    SCHMIDT Dafür habe ich volles Verständnis. Es dürfte mehr als ein Jahr dauern, bis man es überwunden hat …
    LEE Ich bin mir nicht sicher, dass ich es überwunden habe.
    SCHMIDT Ich auch nicht.
    LEE Es ist eine große Lücke. Aber so ist das Leben. Einer muss als Erster gehen.
    SCHMIDT Ja, man sagt sich, dass dies der normale Gang des Lebens ist – aber die Last bleibt die gleiche.
    LEE Es tut sehr weh.
    MATTHIAS NASS Können Sie uns etwas über Ihrer beider Freundschaft erzählen und über Ihre Freundschaft mit Henry Kissinger und George Shultz? Was verbindet Sie vier? Welche Art von Erfahrungen?
    LEE Vielleicht haben wir eine ähnliche Geisteshaltung und sehen die Welt zwar aus unterschiedlichen Blickwinkeln, aber in derselben Perspektive. Also tauschen wir unsere Ansichten aus. Ich meine, Helmut sagt mir geradeheraus, was er denkt, und ich sage ihm geradeheraus, was ich denke. So habe ich im Lauf der Zeit gelernt, bei Themen, über die er Bescheid weiß, seinem Urteil zu vertrauen, und ich nehme an, das gilt auch umgekehrt.
    SCHMIDT Ich stimme Ihnen zu. Seine eigenen Gedanken auszusprechen und sie nicht zu verbergen, schafft Vertrauen. Und das Vertrauen führt dazu, offener zu sein, als man es gestern und vorgestern war. Es baut sich also nach und nach auf. Manchmal trifft man einen Menschen, zu dem man schneller Vertrauen fasst als zu anderen, doch das ist ziemlich selten.
    MATTHIAS NASS Kommt es im Leben eines Politikers oft vor, dass er sich mit einem anderen Politiker anfreundet? Ist das eher selten, oder geschieht es häufiger?
    LEE Man befreundet sich nicht, nur weil der andere ein Staatsmann ist. Man schließt Freundschaft, wenn man beginnt, Vertrauen zu ihm zu fassen, wenn er aufrichtig zu einem ist und man weiß, dass er aufrichtig zu einem ist; dann wird man selbst auch aufrichtig zu ihm, und das Vertrauen zueinander wächst.
    SCHMIDT Richtig. Am Ende seines Lebens wurde Breschnew zu einer Art persönlichem Freund von mir. Wir hatten verabredet, über die Raketen in Europa zu sprechen. Ich hatte ihn gebeten, seine Karten
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