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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt
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war der Kalte Krieg zwischen West und Ost noch in vollem Gange. Man verfolgte in Washington, in London oder Paris Willy Brandts Ostpolitik mit Skepsis, sogar mit Misstrauen. Die Zeitungen schrieben vom Weltkommunismus und unterstellten ein gleichgerichtetes Zusammenspiel zwischen Peking und Moskau. Man sprach von China als Rotchina und von Taiwan als von Formosa. Gleichzeitig liefen viele Studenten in den USA, in Paris, aber auch in Frankfurt und Berlin mit roten Fahnen und mit Mao-Buttons auf der Brust herum und schwärmten von Maos ekelhafter Kulturrevolution.
    Als Bundeskanzler reiste ich zum ersten Mal im Oktober 1975 auf Einladung des Ministerpräsidenten Zhou Enlai nach Peking. Weil Zhou schon sehr krank war, wurde ich am Flughafen von seinem Stellvertreter Deng Xiaoping empfangen, den ich in den folgenden anderthalb Jahrzehnten noch zwei weitere Male zu ausführlichen Gesprächen getroffen habe. Das Straßenbild in Peking zur Zeit meines ersten Besuches habe ich nicht vergessen. Massen von Menschen waren auf unbeleuchteten Fahrrädern unterwegs, alle einheitlich in baumwollenen blauen, bisweilen auch grauen »Mao-Anzügen«, kaum jemals ein Auto. Bei dem Gespräch mit Mao Zedong, das etwa drei Stunden dauerte, saß Deng Xiaoping dabei, ohne ein einziges Wort zu sagen. Drei Jahre später habe ich begriffen, dass es Deng möglicherweise das Leben gekostet hätte, wenn er in seinem anschließenden langen Gespräch mit mir auch nur in einem oder zwei Punkten von der Linie Mao Zedongs abgewichen wäre.
    Die schweren Fehler Mao Zedongs, der sogenannte »Große Sprung nach vorn«, auch seine Vergehen im Zuge der »Großen Proletarischen Kulturrevolution«, waren mir damals schon deutlich, auch seine menschliche Rücksichtslosigkeit, ja Brutalität. Zugleich besaß er offensichtlich eine sehr große Autorität. Mao hatte erkennbar einen Schlaganfall hinter sich, er hatte nicht mehr viel Lebenszeit vor sich. Im Westen der Welt fürchtete man, die sogenannte Viererbande würde Maos Erbe antreten. Tatsächlich ist es dann ganz anders gekommen.
    Was mich damals schon faszinierte, war das Bewusstsein von der viertausendjährigen Geschichte der chinesischen Zivilisation und ihrer ungebrochenen Vitalität. Ganz im Gegensatz zu den untergegangenen Zivilisationen der alten Ägypter, der alten Perser, der alten Griechen, der Römer, der Mayas oder Inkas hat sich die chinesische Kultur über die Jahrtausende gehalten.
    Anders als in den allermeisten anderen Hochkulturen der Weltgeschichte hatte es in China niemals eine das ganze Volk umfassende Religion gegeben. Zwar gab es buddhistische, später islamische und christliche Einflüsse, aber es kam fast nie zu religiös aufgeladenen Machtkämpfen. Der Konfuzianismus – ähnlich auch der Taoismus – war und ist keine Religion. Sondern im Kern ist er eine umfassende Ethik, die von der Familienethik über die Gesellschaftsethik bis zur Staats- und Herrschaftsethik reicht.
    Ich hatte auch ein zweites Charakteristikum der chinesischen Geschichte begriffen: Kaum jemals hat ein chinesischer Kaiser mit Gewalt seine Macht territorial ausgedehnt. Militärische Eroberungen kamen in der chinesischen Geschichte nur sehr selten vor. Obwohl die Schiffe des Admirals Zheng He, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts zu langen Expeditionen aufbrachen, zwanzigmal so groß waren wie einhundert Jahre später die Schiffe von Vasco da Gama oder Kolumbus, ist diese Flotte nicht zur Eroberung fremder Länder eingesetzt worden. Das Reich der Mitte – »Middle Kingdom« – war sich selbst genug. Auswärtige Mächte mussten ihre Unterwürfigkeit durch Kotau bezeugen, durch Tribute und Geschenke. Fremde Eroberer wie der Mongole Dschingis Khan oder die Mandschus, die sich selbst zum Kaiser machten, wurden ziemlich mühelos sinisiert und eingeschmolzen.
    Bis ans Ende des europäischen Mittelalters ist China wissenschaftlich und technologisch den Europäern ihrer Zeit hoch überlegen gewesen. Die Chinesen konnten längst mit beweglichen Lettern Bücher drucken, sie konnten Stahl, Schießpulver, Kanonen und Granaten herstellen, sogar Raketen. Zugleich wurde das Land mit Hilfe des Konfuzianismus regiert. Der Weg in die Herrschaftsklasse und an die Spitzen der politischen Beamtenschaft führte über Bildung und Ausbildung, insbesondere über Kenntnisse der ererbten Literatur. Wer aufsteigen wollte, musste ein umfangreiches, höchst kompliziertes System von literarischen Prüfungen bestehen. Die persönliche Herkunft
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