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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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andere Dinge erledigen. Aber Noelle redete so lange auf mich ein, bis ich nachgab.
    So standen wir im Innenhof des Museums und wipptenmit dem Kopf im Takt. Die Musik war so laut, dass man sich kaum denken hören konnte.
    Jeden Sommer veranstaltete das PS 1 in Long Island City die beliebten „Warm-up“-Konzerte mit Livemusik, bekannten DJs und Barbecue.
    Das Museum hieß PS 1, weil es in einem alten Schulgebäude eingerichtet worden war und man öffentliche Schulen in New York mit PS wie Public School abkürzte und dann einfach durchnummerierte.
    Die Ausstellungen waren trotz der Party noch zugänglich. Eine schöne Abwechslung, wenn man keine Lust mehr auf laute Musik und tanzende Menschen hatte.
    „Hast du Lust, mit in den Raum von James Turrell zu kommen?“, schlug ich Noelle vor, als es dämmerte. Das PS 1 hatte einen der „Skyspaces“ des amerikanischen Künstlers als Dauerinstallation erworben. Ich konnte mich nicht sattsehen. Wir liefen die Treppen hoch bis in den letzten Stock und entfernten uns langsam von den hämmernden Beats der Tanzfläche. Einige wenige liefen versprengt durch die Ausstellungsräume. Oben angekommen öffneten wir die Tür zu Turrells Kunstwerk: ein rechteckiger leerer Raum mit einem Loch in der Decke, durch das der Himmel wie ein Gemälde zum Vorschein kam. Wir legten uns neben die anderen Zuschauer, schwiegen und starrten in den Ausschnitt unendlichen Blaus. Plötzlich glitt ein Flugzeug durch die perfekte Himmelsoberfläche und hinterließ einen weißen Kondensstreifen. Normalerweise ein ganz banaler chemisch-physikalischer Vorgang, aber im Rahmen dieses isoliert stillen Raumes haftete der weißen Abgasspur ästhetische Bedeutung an, die um uns herum murmelnd diskutiert wurde. Es stimmte: Dieser Raum hatte etwas Magisches. Abgesehen davon, dass diese harmlos aussehenden Kondensstreifen zur Klimaveränderung beitrugen.„Irgendwie sehr spirituell, da oben auf dem Boden zu liegen und in den Himmel zu starren. Man verliert sich sofort in seiner eigenen Gedankenwelt“, sagte ich zu Noelle, als wir die Treppe runterliefen. Meine Überlegungen zur Klimakatastrophe behielt ich lieber für mich. „Ich kann nur noch an Frank denken“, entgegnete Noelle.
    Die Köpfe von Noelles Freunden Paul und Frank hüpften ausgelassen in der schwitzenden Menschenmenge. Die Hip-Hop-Legende Afrika Bambaataa aus der Bronx rockte am Plattenteller, und die Leute tobten.
    Noelle hatte schon seit längerem ein Auge auf Frank geworfen. Der farbige Paul war sein bester Freund und immer so makellos gut angezogen, höflich und zuvorkommend, wie nur homosexuelle Männer es sein konnten. Paul machte aus seiner Vorliebe keinen Hehl. Ich hatte den Verdacht, dass auch der große schlaksige schüchterne Frank nur platonisch an Frauen interessiert war. Aber er ließ sich nichts anmerken. Weder in die eine noch die andere Richtung.
    Noelle blühte auf, wenn er sich in greifbarer Nähe befand. So auch heute. Sie fing ständig an zu kichern, trug plötzlich Lippenstift und ein Oberteil, aus dessen Ausschnitt ihre Oberweite herauszupurzeln drohte.
    Paul winkte uns zu, forderte uns auf mitzutanzen. Noelle tauchte sofort in die Woge tanzender Menschen ab. Ich blieb, wo ich war, schaute auf die Uhr. Es war halb neun. Pünktlich um 21 Uhr war die Veranstaltung beendet. Viel zu früh, um nachhause zu gehen. Deshalb wollten wir noch bei mir kochen. Mein Energiepegel gab gefühlte Mitternacht an. Wir waren schließlich schon seit drei Uhr hier. Ich gähnte.
    Plötzlich sagte jemand sehr dicht hinter mir: „Hey, I am Justin, I would really like to meet you.“ Ich fühlte mich nichtangesprochen, drehte mich nicht mal um und musste noch mal gähnen.
    „Hast du schon Pläne, wenn das hier zu Ende ist?“, fragte das unbekannte Wesen, dieses Mal direkt neben mir. „Meinst du mich?“ So richtig verinnerlicht hatte ich die unverblümte Art der amerikanischen Kontaktaufnahme noch immer nicht. „Wen sonst“, sagte die Stimme spitzbübisch. Nun musste ich mich umdrehen. Da stand ein braun gebrannter junger Typ mit ausgebleichtem Haar, der aussah, als sei er gerade vier Wochen auf Hawaii surfen gewesen. Kein schlechter Anblick, aber ich war müde. „Du musst dich gar nicht erst bemühen. Wir gehen jeden Augenblick nachhause“, sagte ich schroff. „Da komm ich mit“, meinte Justin, als hätte er das Ganze alleine zu entscheiden. „So forsch, dass es fast charmant ist ...“, dachte ich und sagte aber: „Das ist ein bisschen
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